Eintausendeinhundertsiebenundreißig. Also 1137. So viele Pässe spielte Spanien in den 120 Minuten des WM-Achtelfinales gegen Russland. Davon kamen 1031 Pässe an, also eintausendundeinunddreißig. Und genauso umständlich, wie sich die Zahlen lesen, so war auch das spanische Spiel. Diese Werte sind Rekord. Seit bei der Weltmeisterschaft 1966 Pässe gezählt werden, hat niemals ein Team so oft den Ball von einem Mitspieler zum nächsten gebracht wie Spanien in Moskau. Dieses Rekordspiel bedeutet das Ende des reinen Ballbesitzfußballs. Und man muss sich deshalb auch fragen, nach welchen Kriterien ein solches Fußballspiel eigentlich künftig noch bewertet werden kann. Denn Spanien hat das Spiel ja nach Elfmeterschießen verloren.
In Spanien, Deutschland und Argentinien sind jedenfalls die drei Mannschaften bei der Weltmeisterschaft ausgeschieden, die in einem Spiel, das immer noch Fußball heißt, am längsten den Ball am Fuß hatten. Doch das hat nichts gebracht. Deutschland wurde von Mexiko ausgekontert, Argentinien von Frankreichs Kylian Mbappé überrannt, Spanien hatte keine Idee, wie es den Ball vors Tor bringen sollte. Stattdessen schoben sie ihn um den Sechzehner. Das war so einschläfernd, dass, wer später die Passlinien studierte, in dem Halbkreis eine Hängematte erkennen konnte.

Andrés Iniesta:Abschied vom bleichen Zauberer
Sein letzter Ballkontakt war ein Tor. Doch Andrés Iniesta tritt nach dem WM-Aus aus Spaniens Nationalmannschaft zurück. Seine Pässe werden in Erinnerung bleiben.
Eine WM ist auch immer ein Schaufenster des Fußballs, und das Turnier in Russland verdeutlicht das Dilemma des modernen Fußballs. Denn vor jedem Spiel muss eine Mannschaft die grundsätzliche Entscheidung treffen: Will sie den Ball haben oder nicht? Wenn sie den Ball hat, geht sie große Risiken ein, sie muss ihre Spieler weit über das Spielfeld verteilen, sie kann nicht "kompakt stehen", wie es so schön heißt. Und bei jedem einzelnen Pass läuft sie dann Gefahr, den Ball an die gegnerische Mannschaft zu verlieren und dann ungeordnet auf dem Feld verteilt zu stehen. Als Belohnung für all diese Risiken bekommt die Mannschaft: nur den Ball. Sonst erst einmal gar nichts. Weil vor ihr, wie im Fall von Russland gegen Spanien, zehn Spieler stehen, die bereit sind, ihr Tor bis zum Letzten zu verteidigen. Es ist ein Paradoxon: Fußball spielt sich oft leichter ohne Ball.
Lange Zeit galt der Ball am Fuß aber als Zepter in der Hand einer Mannschaft. Wer den Ball hatte, agierte; der Gegner musste reagieren: Was konnte daran schlecht sein? Als Spanien von 2008 bis 2012 und gleichzeitig Pep Guardiolas FC Barcelona in dieser Zeit alles gewannen, waren Werte von 75 Prozent Ballbesitz die Avantgarde. Dass es schon damals bei Barcelona noch einen außerirdischen Lionel Messi gab, der die Kunst ins Tor brachte und Spanien 2010 so wenige Tore erzielte wie kein Weltmeister zuvor - das schienen Randaspekte zu sein.
Auch die Denkschule, dass es viel besser ist, den Ball nicht zu haben, gab es damals schon. In Deutschland wurde sie vor allem von Ralf Rangnick und Jürgen Klopp propagiert. Den Ball gewinnen - und dann gleich schnell wieder abgeben, bestenfalls in Form eines Anstoßes des Gegners. Rangnick und Klopp begreifen Fußball als Fehler-Sport: Wer weniger Fehler macht, der gewinnt. Und wer den Ball nicht hat, kann weniger Fehler machen. Diese WM scheint ihnen recht zu geben.
Der Ball ist kein Selbstzweck
Aber so einfach ist es nicht. Spanien oder Deutschland können nicht gegen Russland oder Mexiko auf Konter spielen, die ja selber kontern. Dann würde der Ball in der Mitte liegen. Oder die Abwehrreihen würden ihn sich wie im Tennis zuspielen. Nimm du ihn! Nein, nimm du ihn! In der Bundesliga laufen erschreckend viele Spiele so ab. Aber was wäre los, wenn eine deutsche Nationalmannschaft kickt wie der FC Augsburg?
Tatsächlich sind Deutschland und Spanien nicht nur an den Kontern ihrer Gegner gescheitert und damit an der "Krux des Ballbesitzspiels", wie der Münchner Thomas Müller es nach dem 0:1 zum Auftakt gegen Mexiko nannte - sondern auch daran, dass sie keine Idee hatten, wie sie ihr Spiel ins Ziel bringen. Zu Spaniens Mittelstürmer Diego Costa kam kein Ball, sein deutsches Pendant Timo Werner lief gegen Südkorea in der ersten Halbzeit ständig aus dem Sechzehner und spielte damit ein Konzept, dass der Fußball eigentlich schon zu Grabe getragen hatte: die falsche Neun. Ein Stürmer, der kein Stürmer ist.
Der Ball ist kein Selbstzweck, das müssen Spanien, Argentinien und Deutschland lernen, das müssen aber auch alle begreifen, die sich mit dem Fußball beschäftigen. Eine Mannschaft als "dominant" zu bezeichnen oder als "besser", nur weil sie mit dem Ball spielt - diese These war schon immer ein bisschen wacklig. Wer sie immer noch vertreten mag, kann sich gerne alle 1137 Pässe der Spanier gegen Russland anschauen.