Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM: Brasilien - Nordkorea:Knapp an der Blamage vorbei

Der fünfmalige Weltmeister Brasilien tut sich zum Auftakt beim Sieg über den Außenseiter Nordkorea überraschend schwer und lässt vor allem Spielintelligenz vermissen.

Die Sensation blieb aus, auch wenn sie eine Halbzeit lang und dann nochmal in den Schlussminuten in der Luft lag: Mit 2:1 (0:0) bezwang Brasilien gestern Abend in Johannesburg das Team der Unbekannten aus Nordkorea. Dabei hatte der Turnier-Mitfavorit deutlich mehr Mühe als erwartet. Erst eine Temposteigerung und deutlich erhöhter Kraftaufwand nach der Pause führte zu den Treffern durch Maicon und Elano, die Koreaner trafen kurz vor Schluss.

In Südkorea hatten sie kurzfristig beschlossen, das TV-Signal doch über die Grenze zu senden, ob sie dem feindlichen Bruder im Norden damit einen echten Gefallen taten, würde sich ja erst rausstellen. Die Kühlschranktemperatur im Ellis Park jedenfalls, die eher an einen Bundesliga-Rückrundenauftakt im Rostocker Ostseestadion gemahnte statt an eine afrikanische Fußballfiesta, sie kam dem Außenseiter aus Nordkorea entgegen.

Das Handicap, so gut wie nichts zu wissen über diesen Gegner, hatte Brasiliens Coach Carlos Dunga mit einer Auge-um-Auge-Strategie gekontert: Die strikte Abschirmung, unter der er seine Selecao trainiert, steht der Geheimnishuberei um Nordkoreas Volksarmee nur in Nuancen nach und sorgt für wachsenden Unmut bei der nationalen Presse. Brasiliens Medienschaffenden geht´s wie den Kollegen in Nordkorea (sofern es welche gibt): Sie kriegen leider gar nichts mit vom fünfmaligen Weltmeister, weshalb sich die Anfeidungen bei den Presseterminen häufen. Am Tag vorm Spiel war Dunga gar der Kragen geplatzt: "Ihr prügelt 24 Stunden auf mich ein, und ich habe nur eine Sekunde Zeit, euch zu antworten", schimpfte er vom Podium.

Innerhalb der Selecao aber ist die Stimmung so gelassen, wie der Coach sie stets beschreibt. Vielleicht sogar ein bisschen zu relaxt. Beim mutmaßlich kältesten Spiel der WM-Geschichte übernahm der hohe Favorit zwar gleich die Initiative, dies aber wohl hauptsächlich, weil eingedenk der Witterungsumstände konsequentes Warmlaufen unumgänglich war.

Robinho verzog aus 18 Metern (7.), da war mehr drin gewesen, und immerhin, bereits nach zehn Minuten schoss auch Jong Tae-Se erstmals aufs brasilianische Tor. Dann wurde es zäh. Brasiliens Helden taten sich schwer mit dem - allerdings erwartbaren - doppelten Vierer-Sicherheitskordon vor dem nordkoreanischen Gehäuse. Zunehmend unbeeindruckt, suchten die Asiaten ihr Glück alsbald in Überfällen und Überraschungsmomenten. In-Guk Mun versuchte es mit einem Weitschuss von der Mittellinie (19.), als er Juli Cesar weit vor dem Tor stehen sah. Jong Tae-Se blieb mit seinen Sololäufen stets gefährlich.

Und Brasilien? Der Favorit fror zunehmend ein. Als Kaka, wie einige andere mit Handschuhen unterwegs, nach 22 Minuten einen Querpass ins Nirgendwo schickte, schauten selbst die eigenen Gefährten dem Ball staunend hinterher. Zunehmend genervt, versuchte es Maicon mal mit einem Gewaltschuss, den Keeper Ri Myong-Guk in einem Anflug von jäher Panik zur Ecke wegfaustete - nein, die Torhüter trauen dem Spielgerät nicht mehr bei dieser WM.

Mit soldatischer Disziplin erwehrten sich die Nordkoreaner der Attacken des Rekordweltmeisters, der nun heftiger in Strafraumnähe drängte. Das hier der nach Rangliste bemessen schwächste WM-Teilnehmer zugange war, das war mitnichten erkennbar. Dafür aber der bis dahin schwächste Mann auf dem Platz: Kaka, einst Weltfußballer des Jahres und eigentlich das Hirn dieser Selecao, erwies sich als Totalausfall. Er war außerstande, ein Alternativkonzept zum brasilianischen Breitwandfußball zu entwickeln. Die bange Frage zur Pause: Sollten Dungas Kicker an diesem rotgewandeten Körperwall scheitern, sollte sie dabei just ihre größten Tugenden verraten: Disziplin, Willenskraft?

Zweite Halbzeit, vertrautes Bild: Brasilien rennt an, allerdings heftiger, mehr Flügelwechsel, wütende Schüsse in die Betonwand aus roten Leibern, die Nordkorea-Coach Jong-Hun vor seinem Gehäuse angerührt hat. Nach 50 Minuten schießt Bastos einen Freistoß knapp vorbei, nach 52 Minuten verfehlt Robinho knapp, nach 55 Minuten trägt der Furor Früchte, den Dunga seinen Kickern in der Pause eingeimpft hatte: Flügelwechsel, Gilberto Silva setzt den rechts durchstartenden Maicon ein, der aus spitzem Winkel Ri mit einem Brachialschuss ins kurze Eck überrascht - der Keeper war auf dem Weg nach draußen, um die vermutete Flanke abzufangen.

Der Bann war gebrochen, nun ging es deutlich lebhafter zu vor Ris Kasten. Brasilien setzte nach, sogar Kaka brachte nun seine Pässe an den Mann. Luis Fabiano schoss aus kurzer Distanz freistehend drüber (62.). Nach 72 Minuten die Entscheidung: Robinho, der rührigste Angreifer, schickte Elano mit einem präzisen Steilpass in den Strafraum, und der Kollege schloss aus halbrechter Position unhaltbar ins lange Toreck ab.

Locker nach Hause schaukeln wollten Dungas Kicker den Sieg, die unverwüstlichen Nordkoreaner durchkreuzten diesen Wunsch noch kurz vor Schluss: Ji Nun.Nam nutzte eine Unachtsamkeit in der 89. Minute zum Anschlusstreffer. Vielleicht ganz gut, aus Dungas Sicht, ein Schuss vor den Bug für seine recht überheblich wirkenden Helden.

Kaka übrigens hatte das Feld da bereits für Nilmar geräumt. Dunga wollte seinen schwächelnden Schlüsselspieler schonen für kommende Auftritte, bei denen gewiss mehr von dem erforderlich sein wird, was die Selecao gestern vermissen ließ: Spielintelligenz.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.959997
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.06.2010/jüsc
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.