Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM:Belgien ist raus, der Trainer tritt zurück

Belgien kommt gegen Kroatien nicht über 0:0 hinaus und scheidet aus. Romelu Lukaku vergibt beste Tormöglichkeiten - Trainer Martínez zieht die Konsequenzen.

Von Sven Haist, al-Rayyan

Der Angreifer Romelu Lukaku hätte der umjubelte Siegtorschütze für Belgien werden können. Nachdem sich frühzeitig abzeichnete, dass Marokko im Parallelspiel gegen Kanada keinesfalls hoch verlieren würde, benötigten die Belgier im Duell mit Kroatien unbedingt einen Sieg, um nach zwei schwachen Auftritten noch auf den letzten Drücker das Achtelfinale zu erreichen. Doch trotz mehrerer hochkarätiger Torchancen gelang es dem gerade nach einer Oberschenkelblessur genesenen Lukaku und auch seinen Mitspielern nicht, den Ball irgendwie im Tor der Kroaten unterzubringen.

In der Schlussphase scheiterte vor allem Lukaku mehrfach kurz vor der Torlinie stehend, indem er zwei punktgenaue Hereingaben einmal mit dem Fuß und einmal mit der Brust verstolperte. Bei seiner besten Gelegenheit donnerte der beim FC Chelsea angestellte und momentan an Inter Mailand verliehene 29-Jährige in der 60. Spielminute den Ball an den Innenpfosten - als er nach einem Abpraller ebenfalls überhastet abschloss.

So steht der zuletzt immer öfter verletzte Lukaku nun nahezu sinnbildlich für eine belgische Mannschaft, die ihre beste Zeit wohl hinter sich hat. Unmittelbar nach dem Abpfiff zog er sich frustriert das Trikot aus und verließ als erster Spieler seines Teams konsterniert das Spielfeld - während seine Kollegen minutenlang niedergeschlagen auf dem Boden kauerten.

Kurz darauf gab Nationaltrainer Roberto Martínez bekannt, sein Engagement in Belgien gemäß seines zum Turnierende auslaufenden Vertrags zu beenden. Seine Entscheidung habe er bereits vorab "unabhängig vom Abschneiden bei dieser WM" getroffen, sagte er. Der Spanier, der sich zwischen 2013 und 2016 beim FC Everton einen Namen gemacht hatte, führte das Land in seiner sechsjährigen Amtszeit zum bislang größten Erfolg im Fußball: dem dritten Platz bei der WM 2018 in Russland.

Kroatien verwaltet fast durchgehend das Ergebnis, ohne selbst die Initiative zu ergreifen

Durch das 0:0 müssen die Belgier überraschend schon nach der Vorrunde die Heimreise antreten - zum ersten Mal bei einem Großereignis, für das sie sich qualifiziert haben, seit dem Aus in der Gruppenphase bei der Heim-EM 2000. Stattdessen holte sich Marokko mit sieben Punkten den Gruppensieg, während sich Kroatien mit fünf Zählern den zweiten Platz sicherte. Auf dieses Unentschieden im Abschlussspiel schienen es die Kroaten abgesehen zu haben. Der WM-Zweite von 2018 verwaltete in einem zunächst taktisch geprägten und am Ende dramatischen Match fast durchgehend das Ergebnis, ohne selbst die Initiative zu ergreifen.

In der Hinführung zu diesem Spiel wurde in Belgien über nichts anderes so sehr debattiert wie über das Alter der Spieler. Die Diskussion löste Kevin De Bruyne aus, der in einem brisanten Interview mit der Zeitung The Guardian sein Team als "zu alt" abgestempelt hatte. Daher entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass Trainer Roberto Martínez für das Entscheidungsspiel gegen Kroatien um den Einzug ins Achtelfinale auf die mit 31 Jahren und 3 Monaten, man ahnt es, älteste Startelf der bisherigen WM setzte. An vorderster Stelle agierte neben Leandro Trossard der 35 Jahre alte Dries Mertens. Mit den umtriebigen und spielstarken Angreifern verfolgte Martínez die Idee, die eher unbewegliche kroatische Abwehrzentrale aus ihrer Komfortzone zu holen. Beinahe wäre der Plan schon in der Anfangsphase aufgegangen, als Mertens nach einem Konter freistehend aus kurzer Distanz über das Tor schoss.

Anders als Kroatiens Trainer Zlatkos Dalic, der nach dem überzeugenden Erfolg über Kanada seine Startelf unverändert ließ, reagierte Martínez auf Belgiens desolate Pleite gegen Marokko für seine Verhältnisse mit einem Rundumschlag. Im dritten WM-Spiel setzte der für seine taktische Kniffe bekannte Martínez auf die dritte Defensivformation: diesmal eine 4-4-2-Grundordnung mit sogenannter Raute im Zentrum. Damit sollten die Passwege ins Mittelfeld des WM-Zweiten um Taktgeber Luka Modrić versperrt werden.

Martínez verzichtet auf den formschwachen Kapitän Eden Hazard. Stattdessen trägt Kevin De Bruyne die Binde

Die Kroaten waren so gezwungen, über die Seiten anzugreifen, was ihnen sichtbar weniger entgegenkam. Bis auf einen Effetschuss des Linksaußen Ivan Perisic nach zehn Spielsekunden gab es in der ersten Halbzeit keine Torchance. Aber vor allem verzichtete Martínez auf den formschwachen Kapitän Eden Hazard. Stattdessen trug De Bruyne die Spielführerbinde. Die Maßnahme war ein Zeichen, den renommiertesten belgischen Spieler nach dessen Mitspielerschelte in die Pflicht zu nehmen - und De Bruyne lieferte tatsächlich seine beste Turnierleistung ab. Fast bei jeder Torchance der Belgier hatte er seine Füße im Spiel.

In der offensiven 3-2-5-Anordnung besaß De Bruyne nahezu alle Freiheiten. Der Spielaufbau der Belgier sah vor, die Abwehr der Kroaten auseinanderzuziehen und die im Ballbesitz weit aufrückenden Außen Yannick Carrasco und Thomas Meunier anzuspielen. Sobald die sich in guter Position befanden, belieferten sie mit ihren Flanken das eigene Offensivtrio. Aus diesem Spielzug resultierten vorzeigbare Chancen, die Belgien jedoch allesamt ungenutzt ließ. Deshalb brachte Martínez schon zu Beginn der zweiten Halbzeit den kräftigen Stoßstürmer Lukaku, der vor wenigen Tagen gegen Marokko nach einem Monat sein Comeback gegeben hatte. Mit ihm erhöhte sich nochmals die Torgefahr. Allerdings verpasste er den entscheidenden Treffer für Belgien - und wurde so zur tragischen Figur.

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