Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM: Argentinien - Mexiko:Wider besseres Wissen

Erst blind, dann stumm: Argentiniens Führungstreffer beim 3:1 gegen Mexiko wird gegeben, obwohl alle auf der Leinwand im Stadion sehen, dass er irregulär erzielt wurde.

Christian Zaschke, Johannesburg

Die mexikanischen Spieler konnten es nicht fassen. Oben auf der Video-Leinwand von Soccer-City lief noch einmal der argentinische Führungstreffer von Carlos Tevez, und die mexikanischen Spieler sahen, was alle im Stadion sahen: Tevez stand deutlich im Abseits. Was nun? Die Mexikaner rannten zum Linienrichter, es wirkte nun, als habe auch der die Szene auf der Leinwand gesehen. Zuvor hatte er jedoch nicht auf Abseits entschieden, nun wurde es interessant. Die Argentinier fürchten, dass ihnen der irreguläre Treffer aberkannt werden würde, flugs begaben sie sich ebenfalls zum Linienrichter, gleiches tat der Hauptschiedsrichter, Roberto Rosetti. Er hatte zunächst auf Tor entschieden, nun befragte er den Assistenten. Der zeigte mehrmals auf die Leinwand, während er hinter vorgehaltener Hand sprach. Fürchtete er die Lippenleser, die in solchen Fällen gern bemüht werden, um Konversationen zu rekonstruieren?

Und: Warum verwies er auf die Leinwand? Da er wohl kaum auf das animierte Maskottchen Zakumi hinweisen wollte, das nach Toren auf der Leinwand erscheint, und da er Rosetti wohl auch nicht auf einige interessante Angebote der Fifa-Partner hinweisen wollte, liegt der Schluss sehr nahe, dass er Rosetti sagte, er habe auf der Leinwand gesehen, dass Tevez im Abseits stand.

Für Rosetti gab es jetzt zwei Möglichkeiten. Er hätte, erstens, inmitten des Getümmels mit seinem Assistenten absprechen können, dass dieser behauptet, er habe die Abseitsstellung unmittelbar gesehen, nicht auf der Leinwand. Nur: Warum sollte er dann nicht direkt die Fahne gehoben haben? Das wäre kaum zu erklären, also kam im Grunde nur die zweite Möglichkeit in Betracht: Rosetti entschied auf Tor.

Die dritte Möglichkeit, dass der Assistent sagt, er habe es auf der Leinwand gesehen, und Rosetti daraufhin seine Entscheidung ändert, gab es nicht, weil sich Rosettis Team damit vor aller Augen des Videobeweises bedient hätte. Eher leerte der Teufel einen Eimer Weihwasser, als die Fifa zugäbe, mittels Videobeweis entschieden zu haben. Der Videobeweis ist verboten, war verboten, bleibt verboten.

Für Rosetti und sein Team bedeutete das: Sie durften das Bild auf der Leinwand nie gesehen haben. Deshalb hat diese Fehlentscheidung eine andere Qualität als die vom Nachmittag, als den Engländern gegen Deutschland ein regulärer Treffer nicht gegeben wurde. In diesem ersten Fall des Tages haben es die Schiedsrichter nicht besser gesehen; ihre künstliche Blindheit bestand darin, die Entscheidung nicht überprüfen zu dürfen. Im Fall des Abseitstores von Carlos Tevez mussten die Schiedsrichter hingegen womöglich wider besseres Wissen handeln, was der Angelegenheit eine größere Dimension und einen nachgerade teuflischen Twist verleiht.

Für die Mexikaner war das kaum zu ertragen. Sie diskutierten minutenlang, sie wussten ja ganz, ganz sicher, dass es ein Abseitstor war, und sie sahen, dass es der Linienrichter offensichtlich auch wusste. Dass der Treffer auf den Leinwänden zu sehen war, ist wohl einem Fehler der Stadionregie geschuldet; wobei, was heißt Fehler? Das Tor schien ja korrekt zu sein, und Tore werden nun einmal auf der Leinwand gezeigt. Im Sinne der Fifa-Regel müsste man allerdings absurderweise auf die Wiederholung aller Tore verzichten, die der Zweifel umweht.

Die Spieler auf dem Platz haben sich von der krassen Fehlentscheidung lange nicht erholt. In der Halbzeitpause umringten die mexikanischen Einwechselspieler Rosetti, es wurde gerangelt, geschoben und gedrückt, die Stimmung war hitzig. Als die Mexikaner ihrer Verzweiflung und ihrer Wut Herr geworden waren und zurück ins Spiel fanden, war es bereits zu spät.

Die Fifa hat die Anweisung erteilt, dass sich die Schiedsrichter zu ihren Entscheidungen nicht äußern dürfen; sie werden nicht nur blind gehalten, sondern auch stumm.

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Quelle:
SZ vom 28.06.2010
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