Fußball-WM 1970 in Mexiko:Eine Hydra der Kreativität

Vor 50 Jahren setzte Pelés Brasilien den Goldstandard des Fußballs. Ein Blick zurück mit dem legendären Spielmacher Tostão.

Von Javier Cáceres, Berlin

Vor ein paar Jahren erschien ein Sammelband mit Kolumnen des brasilianischen Ex-Fußballers Tostão, der wegen einer Augenkrankheit seine Karriere beenden musste und doch einer der klarsichtigsten Beobachter des Weltfußballs überhaupt wurde. A Perfeição Não Existe, hieß der Titel, "die Perfektion existiert nicht".

Das war einerseits die empirische Wahrheit eines Sports, in dem 22 Menschen und ein Referee interagieren, mit ihren jeweiligen Emotionen, Tagesformen und fußwerklichen Fehlern im Umgang mit dem Ball. Und doch hatte diese Erkenntnis etwas Schockierendes. Denn Tostão war 1970 Teil einer Gruppe, die den Goldstandard des Fußballs setzte: jener brasilianischen Nationalmannschaft, die in Mexiko gegen Italien mit einem 4:1 ihren damals dritten Weltmeistertitel holte, den Jules-Rimet-Pokal auf immer übereignet bekam (und ihn behielt, bis er 1983 gestohlen und von den Dieben eingeschmolzen wurde). Sie war, kurzum, inmitten eines revolutionären Umfeldes aus Mondlandung, 68er-Rebellion, Popkultur und Kommerzialisierung ein Kulturereignis, das die Menschen emotional gefangen nahm. Am 21. Juni 1970, am Sonntag vor 50 Jahren. Und diese Gefangenschaft dauert an.

"Diese Mannschaft ist aus vielen Gründen in die Geschichte eingegangen", sagt Tostão am Telefon in Belo Horizonte. "Erstens, weil sie eine große Zahl an Cracks vereinte, darunter den größten Spieler aller Zeiten, Pelé, und diese individuelle Qualität in eine große kollektive Kraft verwandelte. Sie war ihrer Zeit in Sachen Taktik und Disziplin voraus, eine revolutionäre Mannschaft. Sie wurde zum Symbol des schönen und effizienten Fußballs. Sie verzauberte und siegte. Und in Brasilien spielt eine große Rolle, dass es die erste WM war, die live im TV übertragen wurde."

Carlos Alberto Brasilien li gegen Roberto Rosato Italien; Carlos Alberto 1970

Die Entscheidung: Carlos Alberto (links) trifft zum 4:1 für Brasilien gegen zunehmend müde Italiener (rechts Roberto Rosato).

(Foto: Ferdi Hartung/imago)

Auch in Brasilien wurden zuletzt Spiele von einst gezeigt, auch Tostão sah sie und dachte an die Debatten jener Tage zurück, die darum kreisten, ob die Mannschaft von 1958, die mit dem damals 17-jährigen Pelé in Schweden erstmals Weltmeister geworden war, besser war als die von 1970.

Auch sie hatte der Welt Namen voller Sonorität und Rhythmen präsentiert. "Jene hatte noch mehr Stars: Pelé, Garrincha, Didí, Nílton Santos... Der Unterschied ist in meinen Augen, dass die Mannschaft von 1958 eine Referenz ist für eine sehr entfernte Vergangenheit. Die Mannschaft von 1970 war eine Vorankündigung des Fußballs, der kommen sollte." Worin dieser Hinweis auf die Zukunft bestand? "Es war nicht nur so, dass viele Spieler an den Angriffsbewegungen teilnahmen. Bei Ballverlust verteidigten alle, die Stürmer gingen zurück, verrichteten Deckungsarbeit, auch Pelé. Noch unter anderen physischen Voraussetzungen, in einem anderen Tempo, ohne das Pressing heutiger Tage. Aber die Grundcharakteristik hatte nur noch wenig mit der damaligen Zeit und viel mehr mit der heutigen Epoche zu tun", erklärt Tostão. Die Mannschaft war eine Hydra der Kreativität, ein Gebilde mit so vielen Köpfen voller Fußball, dass es nutzlos war, einen abzuschlagen. "Brasilien wird die WM gewinnen. Die einzige Form, sie nicht zu gewinnen, ist, wenn man Pelé ein Bein bricht, Tostão den Arm, Rivellino den Kopf oder mir die Knie", sagte der wundervolle Gérson, der im Finale das 2:1 schießen sollte, schon vor Turnierbeginn.

Brasilien hatte schon in der Qualifikation geglänzt; noch unter Trainer João Saldanha, der vor der WM geschasst und durch Mário Lobo Zagallo ersetzt wurde. Der Umstand, dass Saldanha Kommunist war und in Brasilien eine Militärdiktatur herrschte, war nicht der kleinste der Gründe für das Aus. Aber: Es gab auch schlechte Leistungen vor der WM, den Druck von Diktator Médici, Stürmer Dario aufzustellen - und einen Konflikt mit Pelé. Saldanha hatte Pelé Kurzsichtigkeit attestiert, was augenheilkundlich stimmte, auf dem Rasen aber irrelevant war. Unvergessen das 4:1 im Finale, als Pelé den heranstürmenden Carlos Alberto mit einem perfekten Pass bediente. Ohne hinzuschauen.

WM Finale 1970 Pele Brasilien mit großer Chance Torwart Enrico Albertosi Italien schon am Bod; Pele 1970

Auf Händen getragen: Pelé, der vielleicht beste Spieler aller Zeiten, erzielte im Endspiel das 1:0 und gewann zum dritten Mal den WM-Titel.

(Foto: imago/Horstmüller)

Das Tor wirkte wie die Krönung der Improvisation. Doch es war, sagt Tostão, ein durchdachter Spielzug. Tostão war neben Roberto Rivellino, Gérson, Jairzinho (der im Finale das 3:1 und damit als einziger Spieler überhaupt in jedem Spiel einer WM ein Tor schoss) und natürlich Pelé einer der berühmten "fünf Zehner" Brasiliens. Tostão, eigentlich ein Regisseur par excellence, sollte zusammen mit Jairzinho die Verteidiger aufmischen, sie von ihren Positionen wegziehen, Platz schaffen für andere. Zum Beispiel für Carlos Alberto. Oder für Pelé, der sich im Finale mit dem legendären Kopfball zum 1:0 selbst krönte. "Vorm Finale redete ich mir ein: Pelé ist aus Fleisch und Knochen. Danach erkannte ich meinen Irrtum", sagte Pelés Final-Bewacher Tarcisio Burgnich.

"Pelé wusste vorab, dass es seine letzte WM war, und dass er brillieren musste, um jeden Zweifel auszuräumen, dass er der beste Spieler aller Zeiten war. Und er brillierte", sagt Tostão. "Obwohl er in der Dämmerung seiner Karriere war und nicht mehr die Agilität von früher hatte. Wer ihn nicht beim FC Santos spielen sah, macht sich keinen Begriff von ihm."

Von allen großartigen Spielern der Geschichte sei Pelé "der vollständigste" gewesen, sagt Tostão, größer als Messi, Cruyff oder Maradona. "Alle Qualitäten, die ein Stürmer braucht, hatte Pelé auf höchstem Niveau: Technik, Kreativität, Muskel- und Sprungkraft, Beidfüßigkeit beim Schuss, im Dribbling... Er hatte alles!" Und er sei ein "optimaler Kamerad" gewesen, der nie Privilegien gefordert oder an Arroganz gekrankt habe. "In einer Zeit, da es keine Distanz gab, war Pelé für alle da, lächelte, gab allen Interviews... Er akzeptierte die Rolle als Berühmtheit. Es gab keinen Konflikt zwischen dem Idol und dem Bürger Pelé."

Das Spiel, Pelé, die WM '70, das Aztekenstadion, das bei Spielschluss von Fans geflutet wurde, die Tostão bis auf die Unterhose auszogen, ehe die Polizei eingriff: Existierte sie doch einmal, die Perfektion? Tostão entgegnet, es sei zwar faszinierend, heute die alten Bilder zu sehen, und "ich halte das Team von 1970, und auch die Seleção von 1982, für noch besser als ich damals dachte". Aber: Er findet immer genug Details irdischer Unvollkommenheit. Einmal schrieb er, es wäre vielleicht besser, die Filmbänder zu verbrennen. Halb im Scherz, halb im Ernst. Denn, so sagt er auch heute, "die Erinnerung ist größer als die Realität". Und diese Erinnerung führt dazu, dass Brasiliens Mannschaft von 1970 jeden Tag noch schöner spielt als damals vor 50 Jahren.

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