Süddeutsche Zeitung

Fußball-WM 1930:"Es war die Hölle!"

Deutschland sagt ab, der Fußball hat seinen ersten Popstar und Final-Verlierer Argentinien ist ewig verbittert: Über die erste Fußball-WM vor 90 Jahren in Uruguay.

Von Thomas Hummel

Die erste Fußball-Weltmeisterschaft endete mit einem ewig verbitterten Verlierer. Argentinien war sauer, fühlte sich betrogen. 30 000 Fans hatten sich an einem Mittwochmorgen in Buenos Aires per Schiff auf den Weg gemacht hinüber auf die andere Seite des Rio de la Plata, nachmittags stieg das Endspiel zwischen ihrer Mannschaft und Gastgeber Uruguay. Doch für die Gäste ging alles schief. Oder sollte es schief gehen?

Als das Turnier am 13. Juni 1930, vor 90 Jahren, begonnen hatte, hatten bereits alle mit diesem Endspiel gerechnet. Uruguay gegen Argentinien, die beiden zu dieser Zeit besten Mannschaften der Welt. Schon 1928 waren sie sich im Endspiel der olympischen Spiele in Amsterdam gegenübergestanden, Uruguay hatte im Wiederholungsspiel gewonnen.

Diesmal war sogar das Wetter gegen Argentinien, noch während des Spiels irrten viele Boote in der Mündung des Silberflusses umher, weil der Nebel so dicht war. In Montevideo indes hallten die Schreie von Zehntausenden, in den Chroniken schwankt die Zahl der Zuschauer zwischen 70 000 und 100 000. Die Spieler der Gäste beklagten sich Zeit ihres Lebens über die aggressive Atmosphäre. Francisco Varallo sagte der SZ im Jahr 2005 als damals letzter Überlebender des Finals: "Es war die Hölle! Die Uruguayer wollten uns umbringen. Sie können sich das nicht vorstellen! Wie im Krieg!" Mehrere Spieler wollten nicht auflaufen, aus Furcht, ihnen könne etwas passieren.

Argentinien verlor das WM-Finale 2:4. Dabei hatten die Gäste zur Halbzeit noch 2:1 geführt, Varallo zudem die Latte getroffen. Sein Mitspieler Luis Monti erklärte später: "Als wir zur zweiten Halbzeit auf den Platz kamen, standen da ungefähr 300 Milizen mit gezücktem Bajonett. Uns hätten die nicht verteidigt. Wenn ich einen Gegenspieler berührt hätte, wäre es losgegangen." Uruguay schoss noch drei Tore und erhielt den WM-Pokal.

Warum Uruguay?

Für das kleine Land war es der dritte große Sieg in Serie, nach zwei Olympiasiegen 1924 und 1928. Besonders in Paris 1924 waren die Südamerikaner gefeiert worden wie Sportler einer anderen Sphäre.

So erschien es logisch, dem quasi amtierenden Titelträger das erste Weltturnier austragen zu lassen. Uruguay würde 1930 das 100-jährige Bestehen der eigenen Verfassung feiern und verfügte Ende der zwanziger Jahre über beträchtlichen Reichtum. Während die USA und Europa unter einer Wirtschaftskrise litten, herrschte in Uruguay hoher Lebensstandard mit kostenloser Schulbildung und geregelten Arbeitszeiten. Die Regierung garantierte, dass alle Kosten des Turniers mit Anreise und Unterbringung der Mannschaften übernommen werden. Am 28. Mai 1929 vergab der Weltfußballverband Fifa das Turnier nach Uruguay. Der letzte Konkurrent Italien erhielt den Zuschlag für 1934.

Absagen und kuriose Anreise

Viele europäische Verbände ließen den Weltverband Fifa im Stich, wollten ihre besten Spieler nicht auf die andere Seite des Atlantiks schicken. Der Deutsche Fußball-Bund sagte die Teilnahme ohne nähere Begründung ab. Zwei Monate vor WM-Beginn lag noch keine Anmeldung aus Europa vor.

Fifa-Gründer Julet Rimet bettelte überall auf dem Kontinent um eine Teilnahme. Am Ende willigten Jugoslawien, Frankreich, Belgien und Rumänien ein. Linienflüge gab es noch nicht, also stand eine wochenlange Schifffahrt bevor. Franzosen, Belgier und Rumänen bildeten auf dem Luxusdampfer Conte Verde eine Fahrgemeinschaft, die Jugoslawen folgten mit dem Schiff Florida. Aufgrund der vielen Absagen aus Europa waren die Südamerikaner so verstimmt, dass sie mit einem Boykott künftiger Turniere drohten.

Das Stadion

Mit der Vergabe der WM entschlossen sich die Uruguayer zu einem wagemutigen Plan: Binnen eines Jahres wollten sie ein gigantisches Stadion bauen namens Estadio Centenario, Jahrhundert-Stadion. Da es auf dem Kontinent noch keine ausreichend große Zementfabrik gab, musste der Beton dafür aus Deutschland per Schiff importiert werden. Der kam erst im Februar 1930 an, danach arbeiteten mehrere hundert Männer rund um die Uhr auf der Baustelle. Unter der Leitung von Architekt Juan Antonio Scasso sollte ein riesiges Oval, mit vier Tribünen und für bis zu 100 000 Zuschauer entstehen.

Doch ein regenreicher Herbst macht die Pläne fast zunichte. Der Zement konnte nicht richtig trocknen, die Bauarbeiten kamen zu langsam voran, einige Tribünen wurden verkleinert. Das Turnier begann in den Stadien der Vereine Penarol und Nacional, erst am 18. Juli wurde das Estadio Centenario eingeweiht. 60 000 Zuschauer sahen einen 1:0-Sieg Uruguays gegen Peru.

Blick aus Deutschland

Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr wenig von der ersten Fußball-WM. 1930 war das Jahr, als Max Schmeling als erster Europäer Schwergewichts-Weltmeister wurde, nach einem Sieg Anfang Juni gegen Jack Sharkey in New York. Schmeling war der Held der Nation.

Aus Uruguay gab es in den Münchner Zeitungen zumeist nur kleine Artikel, geschrieben in der Sportreporter-Sprache der damaligen Zeit. Im Sport-Telegraf stand zum Gruppensieger Jugoslawien: "Die Belgrader spielen technisch ausgezeichnet, dabei trotz aller Schnelligkeit durchaus kaltblütig." Beim 2:1 gegen Brasilien im ersten Vorrundenspiel hätten sie sogar ein drittes Tor geschossen. "Das war dem Schiedsrichter aber anscheinend zu viel, er entschied auf Abseits (die Schiedsrichter-Kalamität ist auch bei diesem Turnier groß)."

Argentinier und Chilenen (3:1) mochten sich offenbar nicht: "Es gab einen schweren Kampf, der schließlich ausartete. Der Mittelläufer Monti brachte als erster eine überaus derbe Note ins Spiel; Monti erhielt für seine Roheit eine Ohrfeige, er revanchierte sich, worauf eine allgemeine Rauferei entstand. Minutenlang gab es auf dem Platz eine veritable Boxerschlacht."

Die Franzosen indes seien die Lieblinge des Publikums gewesen, "und man muß sagen, daß sie sich äußerst wirksam in Positur zu setzen wußten. Wenn z.B. ein Gegner fiel, dann sprangen drei Franzosen hinzu, um ihn mit Pomp wieder auf die Beine zu bringen." Nach dem knappen 0:1 gegen Argentinien in der Vorrunde seien die Spieler "im Triumph vom Platz getragen" worden. Die Zeitung folgerte daraus: "Ein Jammer, dass Europa in Montevideo nicht durch starke Mannschaften vertreten ist, der Weltmeister würde kein Südamerikaner werden!"

Der erste Star

Wenn sich nicht alle Berichterstatter der Zeit irrten, dann hatte Uruguay den besten Fußballer seiner Zeit im Team: José Leandro Andrade.

Als 1924 in Paris zum ersten Mal ein Team aus Südamerika bei Olympia teilnahm, machten Zuschauer und Gegner große Augen. Uruguay spielte, wie man das in Europa noch nicht gesehen hatte. Mit spontanen Ideen, lockerer Taktik, Finten und Tricks kontrastierten sie das schablonenhafte Kick and Rush der Europäer. Der Anführer der Künstlergruppe war der Mittelfeldspieler Andrade. Für Aufsehen sorgte zudem, dass Andrade schwarz war. Viele Europäer hatten bis dahin nie einen Schwarzen gesehen, geschweige denn Fußball spielend.

Ein deutscher Fußball-Korrespondent schrieb: "Ein zielbewussteres, taktisch vollendeteres Spiel lässt sich kaum denken. Sein fabelhaftes Können rief spontan Beifall hervor." Es folgten noch einige rassistische Ausfälle im Kolonialherren-Ton. Doch der Fußball war für Andrade die Einfallstür in die Pariser Partyszene der reichen Bohemiens, er wurde herumgereicht wie eine Zirkusattraktion. Andrade war der erste Popstar des Fußballs.

Folgen des Finals

Der Jubel in Montevideo nach dem Finale war riesig, der folgende Donnerstag wurde zum Feiertag erklärt. Die Nationalmannschaft, "La Celeste" - die Himmelblauen - genannt, geriet zum Heiligtum des Landes, bis heute umschwärmt von der Bevölkerung und Kulturschaffenden.

In Buenos Aires hingegen kippte die Stimmung. Das Wiener Sport-Tagblatt schrieb: "Die Wut der Massen wendete sich auch gegen das uruguayische Konsulat, gegen das ein Angriff unternommen wurde. Besonderer Schaden wurde ja nicht angerichtet, aber die Polizei konnte doch erst auf die Weise Ruhe stiften daß sie alle Vorbereitungen traf, auf die Menge zu schießen. Jetzt erst folgte eine entsprechende Abkühlung."

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