Fußball:Vier Pfosten für ein Balleluja

Englische Wochen

Das Tor zum Himmelreich? Auf jeden Fall eine Pforte, in die der Ball eintreten soll.

(Foto: Andreas Teichmann/laif)

Skandale, Kommerz und Geldgier ärgern Fußball-Fans, aber das Stadion bleibt für immer ihre Kirche. Über Gemeinsamkeiten von Fußball und Religion.

Von Matthias Drobinski

Nächsten Freitag geht es wieder los, 20. Januar, 20.30 Uhr, Anstoß im Schwarzwaldstadion: Sportclub Freiburg versus FC Bayern München, gegen den Meister, den Favoriten. Aber was heißt das? Jedes Spiel ist anders. Vielleicht ballern die Bayern den Breisgauern die Hütte voll. Vielleicht aber verteidigen auch die Freiburger tapfer und kontern geschickt, und kurz vor Schluss trudelt der Ball unhaltbar abgefälscht in Manuel Neuers Tor. Niemand weiß es. Alles ist offen. "Was ist Wahrheit?" fragte Pilatus, als Jesus vor ihm stand. Jesus schwieg. Würde der Statthalter des römischen Kaisers die Frage über die Lautsprecheranlage des Schwarzwaldstadions stellen, ein zehntausendstimmiger Chor würde zurückrufen: "Die Wahrheit liegt auf dem Platz!"

Der Ball rollt, die Winterpause der Fußball-Bundesliga ist bald vorbei. Und wie absurd die Fans einen Fußball-Weltverband finden mögen, der ihnen eine Mega-Weltmeisterschaft mit 48 Teilnehmern zumutet, wie sehr sie sich über Skandale, Kommerz und Geldgier ärgern: Sie werden kommen und sehen. Es geht um Sieg und Niederlage, Freud und Leid, Hoffnung und Enttäuschung, Erlösung und Verdammnis. Millionen Männer wissen wieder, was ihre Bestimmung ist: samstags ab 18 Uhr vorm Fernseher zu sitzen, Sportschau zu gucken und, obwohl in Pantoffeln, im Reflex mitzuschießen. Balleluja!

Der Fußballgott ist tolerant und kompatibel, solange man ihn nicht reizt

Der gute Kaplan Hubert Dewald scheint schon 1909 geahnt zu haben, welche Konkurrenz seiner katholischen Kirche da entstehen würde. Einer aus der Jünglingssodalität "Dreifaltigkeit" hatte aus England einen Lederball mit nach Dortmund gebracht. Die Jungs, Stahlwerker und Bergarbeiter aus Schlesien, hatten nur noch Fußball im Sinn. Als sie auch noch einen Verein gründen wollten, sagte der Kaplan Nein zu diesem "rohen Treiben". Das Spiel aber war stärker als der Kirchenmann. Man traf sich im Nebenraum des Wirtshauses "Zum Wildschütz" und gründeten den "Ballspielverein Borussia 09 Dortmund".

Heute gibt es in Dortmund Gottesdienste für BVB-Fans; die Nachfahren des Kaplans Dewald sind längst bekehrt. Kölns Kardinal Rainer Maria Woelki ist Anhänger des örtlichen FC, Nikolaus Schneider, der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, selbst ein altgedienter Torwart. Der größte Fan des argentinischen Erstligisten Atlético San Lorenzo de Almagro sitzt im Vatikan und heißt Papst Franziskus. Selbst sein Vorgänger Joseph Ratzinger, dem die Körperertüchtigung fremd ist, hat gesagt, ein Fußballspiel sei "eine Art versuchte Heimkehr ins Paradies". Vorbei die Zeiten, als der Deutsche Fußballbund und die katholische Kirche stritten, ob sonntags Fußball gespielt werden darf. Christen, Muslime, Juden - sie haben ihren Frieden mit der größten Säkularreligion der Welt gemacht; viele fromme Fußballspieler zeigen jede Woche, dass man die Gläubigkeiten verbinden kann. Der Fußballgott ist tolerant und kompatibel - wenn man ihn nicht reizt.

Der Fußballgott? Der Fußballreporter Heribert Zimmermann bekam 1954 noch einen Rüffel vom Intendanten für seinen Ausruf : "Toni, du bist ein Fußballgott", als im Endspiel um die Weltmeisterschaft Toni Turek in höchster Not einen Schuss der Ungarn parierte. Heute stört sich niemand mehr daran. Es ist ja auch verblüffend, wie viel Religion im Fußball und in der Inszenierung des Fußballs steckt. Kirchen wie Stadien füllen sich im Wochenrhythmus; wie der Kirchgänger das gebügelte Hemd nimmt, holt der Fan seine emblemgeschmückte Jeansjacke aus dem Schrank, sinnigerweise "Kutte" genannt. Fan - das kommt vom lateinischen "fanaticus" und bedeutet "von einer Gottheit in Entzückung, in Raserei versetzt".

Der Verzückte bekennt sich zu seinem Verein. Im Stadion hat er seinen festen Platz in der Südkurve, wie die Großmutter ihren in der Kirchenbank, wo seit 40 Jahren am Haken ihr Sitzkissen hängt. Die Vereinshymne und "You'll never walk alone" kennt er auswendig wie der Kirchgänger sein "Großer Gott, wir loben dich". Das Lehramt der Fifa hat die Regeln festgelegt, ein Dogmenwächter in Schwarz sorgt für ihre Einhaltung; Fans wie Spieler verfluchen ihn und akzeptieren ihn doch. Der wahre Sündenbock sitzt auf der Trainerbank: Einmal im Jahr, am Jom Kippur-Tag, lud das Volk Israel einem Ziegenbock symbolisch alle Fehler, Versäumnisse und Sünden auf und jagte ihn mitsamt derselben in die Wüste. Im modernen Fußball hat sich das aufs schönste bewährt.

Nicht Ostern begeistert das Volk, sondern ein 7:1-Sieg gegen Brasilien

Man beachte auch die ritualisierte Sprache der Kommentatoren eines Spiels. Klebt einem das Schusspech am Stiefel, und er zimmert das Leder an die Latte, bevor es zum Pausentee geht, weiß die ergriffene Gemeinde: Aha. Und wiegt sich im Sound, als erklänge die Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums. Man kann noch tiefer gehen, ins Transzendente. Öffnet sich nicht das Spielfeld dort, wo die Tore sind, hin zu einer anderen Wirklichkeit? Heißt es nicht zu Recht, ein Spieler verwandle den Ball, wenn er ihn über die Torlinie tritt? Es ist ja die Musik des Paradieses zu hören, wenn eine Mannschaft traumwandlerisch sicher ihre Pässe spielt, ein Fuß den Ball in der Luft so trifft, dass er sich in unberechenbarer Bahn ins Tor senkt - und der Schwefel der Hölle zu riechen, wenn nichts von dem gelingt. Des Balles Wege sind unergründlich.

Der Fußballgott ist ökumenisch. Er vereint die katholische Lehre, dass man auf Erden ackern muss, um ins Paradies zu kommen, mit Martin Luthers Erkenntnis, dass letztlich nur Gottes Gnade den Sieg über den großen Gegenspieler bringt. Er kennt den Heiligenkult um Ronaldo und Messi und lebt doch vom allgemeinen Priestertum: Eine Wiese, ein Ball, vier Jacken als Torpfosten genügen, und jeder kann Ronaldo oder Messi sein. Er ist Gemeinschaftskult und doch individuell: Wer keine Lust mehr hat, geht heim oder macht die Glotze aus, ohne die Hölle befürchten zu müssen.

Der Fußballgott ist ein Gott der Ekstase, nicht der Angst, wie es der Schriftsteller Christian Friedrich Delius in seinem Buch "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" beschreibt: Er sitzt am Tag des Endspiels 1954 in Bern vorm Radio im Amtszimmer seines Vaters, einem gestrengen evangelischen Pastor; ein bedrückend großes Kreuz beherrscht den Raum. Und dann schreit der Reporter Zimmermann sein: "Toni, du bist ein Fußballgott!" Und ein anderer Gott betritt das Arbeitszimmer - einer, der begeistert statt bedrückt.

Im Zeitalter der Säkularisierung löst die Säkularreligion Fußball die traditionelle Religion als verbindendes Element ab, sagt der Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling. Für Männer jedenfalls stimmt das, die der raue Kumpelton des Fußballs mehr anzieht als die Aggressionsvermeidung einer Kirchengruppe. Nicht Ostern begeistert sie, sondern ein 7:1 gegen Brasilien; mehr noch als die Kirchengemeinden verbinden die Fußballvereine Migranten und Einheimische, Alt und Jung, Arm und Reich, Arbeiter und Akademiker. Es ist egal, woher man kommt und was man ist, wenn man rennt und kämpft, den Ball abgibt und Blutgrätschen vermeidet.

Auch Fifa-Funktionäre verstecken Gier hinter frommen Floskeln

Der Fußball ist gerade deshalb eine so erfolgreiche Säkularreligion, weil er natürlich im eigentlichen Sinn keine Religion ist und der Fußballgott nicht weniger eine Floskel als der Literaturpapst. Der Fußball spielt mit den religiösen Elementen. Himmel und Hölle sind Teil einer Inszenierung. Der Ernst des Spiels ist nur begrenzt der Ernst des Lebens: Als Schalke-, Dortmund- oder Bayern-Fan ist man Teilzeitgläubiger, Fundamentalist für 90 Minuten. Echt aber sind in dieser Zeit die Freude, der Ärger, der Jubel, die Häme - Emotionen, die man sich sonst eher verkneift.

Der Fußball ist insgesamt zur Projektionsfläche fürs Leben geworden. Man kann trefflich darüber streiten, was der Günter-Netzer-Fußball mit Willy Brandts "mehr Demokratie wagen" zu tun hatte und der Sicherheitsfußball der 80er mit Helmut Kohls Beharrungstalent. Man kann grübeln, was es bedeutet, wenn nun Bundestrainer Joachim Löw auf Einladung der Grünen den nächsten Bundespräsidenten mitwählt. Es gibt Fußballphilosophen wie Klaus Theweleit, der im Fußball das "Tor des Ich zur Welt" erblickt; der Dichter Albert Ostermeier, singt seine "Ode an Kahn". Fußball ist multiprojektional. Und je mehr sich die Menschen vom homo faber, vom produzierenden Menschen hin zum homo ludens wandeln, zur spielenden, vorläufigen Existenz, umso mehr wird das Spiel zum Deutungs-, Erklärungs- und Sinnstiftungsraum.

Leider haben die Weltzentrale der Säkularreligion Fußball und ihre Ortskirchen sich auch ein paar weniger schöne Eigenschaften der Religionen angeeignet - vor allem die Verschleierung von Macht und Machtmissbrauch hinter Tabus und frommen Floskeln. Skandale perlen an Funktionären wie Starspielern ab - und wenn es mal zu viel wird, dann haben Einzelne Fehler gemacht, die Institution bleibt unfehlbar. Die Gläubigen mögen die Geldgier der Oberen beklagen, sie wird aber hingenommen. In den Fußball-Foren träumen die Fans vom ehrlichen, kommerzfreien Fußball - aber sie wünschen, dass die Fernsehsender viele Millionen Euro ausgeben, damit sie Fußball schauen können. Sie leiden lauthals an diesen Zuständen wie Katholiken an der Sexualmoral ihrer Kirche - aber es passiert nichts. Als Fußballfunktionär hätte der Limburger Bischof Tebartz van Elst seine Wohnung locker doppelt so groß bauen können, ohne Ärger zu bekommen.

Wie schön, dass es den Fußball gibt, dieses unglaublich einfache, unfassbare Spiel des Lebens. Aber wenn es ums Geld geht und um die Macht, täte auch der Säkularreligion Fußball eine Aufklärung gut.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: