Videobeweis:Gebt jedem Trainer eine blaue oder grüne Karte!

09.11.2019, xjhx, Fussball 1.Bundesliga, FC Schalke 04 - Fortuna Duesseldorf emspor, v.l. Schiedsrichter Robert Hartman

Schiedsrichter wie Robert Hartmann informieren sich seit Einführung des Video-Assistenten nicht länger nur auf dem Platz.

(Foto: imago images/Jan Huebner)

Fußball ist Drama. Aber der Videobeweis verletzt die Dramentheorie, indem er die Einheit des Ortes auflöst. Die Videoentscheidung sollte zumindest wieder ins Spiel zurückkehren.

Gastkommentar von Thomas Grethlein

Woche für Woche wird über den Videobeweis diskutiert; kaum eine Regeländerung des Fußballspiels hat für derartig viel Zündstoff gesorgt wie diese temporäre Verlagerung der Entscheidungsgewalt des Schiedsrichters vom Platz in den sogenannten Kölner Keller. Woche für Woche sehen wir verunsicherte Spieler und Stadionbesucher, die - manchmal minutenlang - auf das Urteil warten. Der Torjubel, Ausdruck schönster Emotionen, erstirbt immer häufiger, weil er stets davon bedroht ist, verfehlt zu sein. Fast alle lieben das Fußballspiel. Kaum einer liebt den Videobeweis. Den kann man auch nicht lieben, weil er die spontanen Emotionen wie Freude und Trauer, weil er das Lebendige, weil er das, was den Fußball ausmacht, angreift und erstickt. Nicht nur Fußballromantiker fürchten, dass so der Fußball in seinen Grundfesten schwer erschüttert wird. Peter Sloterdijk sagt: "Zum Fußball als reguliertem Schicksalsdrama auf dem Rasen gehören drei Mannschaften. Nimmt man der Mannschaft im schwarzen Trikot die Freiheit, falsch zu pfeifen, hat man das Spiel ruiniert."

Durchaus gute Argumente für den VAR (Video Assistant Referee) nennt Gerd Lamatsch in seinem lesenswerten Buch "Keller-Schiri. Der Weg zum Videobeweis". Dem stehen folgende gewichtige Gegenargumente gegenüber: 1. Fußball ist Drama. Der Videobeweis verletzt die klassische Dramentheorie. 2. Der Videobeweis täuscht Objektivität und Präzision nur vor. Und als stärkstes Argument: 3. Er schafft keine Gerechtigkeit, macht das Spiel nicht einmal gerechter.

Der Videobeweis hebt die Einheit des Ortes auf - und die der Zeit

Eine Forderung der klassischen Dramentheorie verlangt die Einheit des Ortes, das heißt, alles Geschehen soll an einem Ort stattfinden. Dagegen verstößt der Videobeweis. Er hebt die Einheit des Ortes auf. Ein künstliches Gottesurteil, das nicht einmal durch einen artifiziellen Deus ex Machina, sondern durch eine abstrakt und fern vom Ort des Geschehens einwirkende Instanz gefällt wird, kann dem weiteren Verlauf des Fußballdramas eine völlig andere Wendung geben. Die Beteiligten (Schiedsrichter, Spieler, Zuschauer) wissen nicht, wann und oftmals auch nicht warum hier von außen korrigierend eingegriffen wird. Weil die Entscheidungsträger kein Teil der sozialen Erlebnisgemeinschaft im Stadion sind, wird der Eingriff als willkürlicher Akt einer fremden Macht empfunden.

Die offizielle Sprachregelung, vom Video-Assistenten (VA) zu sprechen, entspricht jedenfalls nicht dem gängigen Verständnis von Assistenz. Denn die Videoschiedsrichter handeln autonom und werden nicht nur vom Schiedsrichter bei einer (aus seiner Sicht unsicheren) Entscheidung zur Unterstützung hinzugezogen; nein, sie dürfen, das sagt die DFL, sogar "eingreifen". Wie sich die Assistenten auf dem Platz von jenen aus dem Keller unterscheiden, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass dem Linienrichter ein derartiger "Eingriff" nicht zusteht. ("Auf keinen Fall darf der Schiedsrichter dem Eingreifen eines Schiedsrichter-Assistenten stattgeben, wenn er selbst den Vorfall gesehen hat ...")

13.10.2019 - Fussball - 1. FC Nürnberg Nuernberg FCN ( Club ) - Mitgliederversammlung / Jahreshauptversammlung / JHV 201; grethlein

Thomas Grethlein, 61, ist seit 2014 Vorsitzender des Aufsichtsrats des 1. FC Nürnberg.

(Foto: Daniel Marr / imago images / Zink)

Auch die Einheit der Zeit wird aufgehoben. Zwar kennt das Spiel schon immer zahlreiche Unterbrechungen; doch diese erfolgen aus dem Spiel heraus, etwa indem sich ein Spieler verletzt hat oder aber indem vom Schiedsrichter aufgrund eines Fouls das Spiel unterbrochen wird. Durch die gewissermaßen exterritoriale Überprüfung der Schiedsrichterentscheidungen mittels des VAR entsteht nun am Ort des Geschehens eine "leere Zeit", deren Gehalt und Inhalt allen im Stadion verborgen bleibt. Dies hat eine eigentümliche Wirkung auf die Emotionen der Spieler und Zuschauer. Die unmittelbare emotionale Begleitung des Spiels wird nicht nur unterbrochen, sie kann nur schwer wieder aufgenommen werden, wird meist sogar nachhaltig gestört. "Ich war dabei" - das kann man seit dem Videobeweis nur mit relativer Bedingtheit sagen. Das Warten auf das Keller-Urteil entfremdet nicht nur die Fans, sondern degradiert auch die Spieler (und sogar den Schiedsrichter) während dieser Zeit zu Statisten. Es geschieht nichts - bis das Urteil hereinbricht.

Auch wenn die DFL betont, der Video-Assistent sei "kein Oberschiedsrichter", so erfahren die Zuschauer doch immer wieder, dass allein aufgrund der Stimme im Ohr des Platzschiedsrichters das Spiel angehalten wird und Entscheidungen revidiert werden. Ganz offensichtlich akzeptieren die Schiedsrichter das Verdikt ihrer Kölner Kollegen, die amüsanterweise auch in Schiedsrichterkleidung dem Spiel auf ihren Bildschirmen folgen. Dabei kann die von mir verwendete Bezeichnung "Gottesurteil" sogar als Euphemismus verstanden werden, denn das Urteil kommt ja nicht "von oben", sondern von "unten", nämlich aus dem Keller. Das Spiel ist keine "in sich geschlossene Handlung" mehr.

Der Videobeweis gibt Präzision und Objektivität vor; beides kann er nicht halten. Insbesondere bei den Abseitsentscheidungen, die eine zentrale Rolle spielen, wird eine absurde Genauigkeit vorgetäuscht. Oftmals basiert die Kellerentscheidung auf Fußspitzenlängen. Dabei ist doch der Zeitpunkt, "in dem ein Mitspieler den Ball spielt oder berührt" entscheidend. Und in einer hundertstel (sic!) Sekunde kann sich die Position eines Spielers leicht um mehr als 8 cm verschieben; bei gegenläufigen Bewegungen von zwei Spielern kann sich die Differenz bereits auf 16 cm vergrößern! Innerhalb einer hundertstel Sekunde könnte die kalibrierte Linie also um entscheidende Zentimeter verschoben werden müssen. Wenn man dann noch bedenkt, dass TV-Sender nur 50 Bilder pro Sekunde liefern, spricht das der vermeintlichen Präzision ein weiteres Mal hohn.

Der Video-Assistent schafft keine Gerechtigkeit, er macht das Spiel nicht einmal gerechter

Außerdem ist die kalibrierte Linie ein zweidimensionales Gebilde; die Abseitsregel umfasst aber drei Dimensionen. Die Projektion der dritten Dimension auf die Linie birgt aufgrund der Kameraperspektiven damit weitere Ungenauigkeiten.

Wie wir überhaupt wissen, dass die Kameraperspektive für die Interpretation der Situation von erheblicher Bedeutung ist. Wie oft haben wir im Fernsehen schon Foulsituationen aus zwei, drei oder mehr Perspektiven gesehen und die Situation jedes Mal anders gedeutet. Selbst wenn die Situation durch zahlreiche Objektive abgebildet wird, gibt es kein objektives Kriterium für die Entscheidung. Auch im Keller in Köln sitzen Menschen - und diese können irren. (Wobei deren Irrtum dann noch viel schmerzlicher empfunden wird, sollen sie doch als Fehlerkorrektiv fungieren und daher selbst möglichst frei von Fehlern sein.)

Seitens der DFL heißt es: "Der Video-Assistent soll den Fußball ein Stück weit gerechter machen." Ein im Mantel der Bescheidenheit auftretender großer Anspruch. Denn genau das tut er nicht und kann es auch gar nicht. Denn: Gerechtigkeit ist keine skalierbare Größe; jedenfalls dann, wenn es um Verfahrensgerechtigkeit geht.

Wer hat es noch nicht erlebt, dass auf einen fälschlich zugesprochenen Einwurf ein Tor folgte? Und bei Einwürfen (wie auch bei Eckballentscheidungen) darf der "Video-Assistent" nicht eingreifen. Was "spielentscheidend" ist, lässt sich jedenfalls im Vorfeld eines Spiels nicht definitorisch oder klassifikatorisch regeln.

Selbst wenn der Videobeweis die Anzahl von Fehlentscheidungen reduziert, so wird damit doch nicht mehr Gerechtigkeit ins Spiel kommen. Ein einziger falscher Pfiff kann genügen, um das Ergebnis eines Spiels als ungerecht erscheinen zu lassen. Selbst wenn beispielsweise zehn ungerechte (im Sinne von falschen) Entscheidungen des Schiedsrichters korrigiert würden, eine aber bestehen bliebe, kann das zustande gekommene Ergebnis ungerecht sein. Die Korrekturen haben das Spiel dann kein Stück weit gerechter gemacht. Eine bloße Reduktion der Fehlerhäufigkeit führt nicht zu einem "gerechteren" Ergebnis.

Resümee: Meine Anmerkungen möchte ich explizit als Plädoyer für die Abschaffung des "Video-Assistenten" verstanden wissen. Ich gestehe aber, dass es für einen derart weitreichenden Schritt wenig Hoffnung gibt, denn die Erfahrung lehrt, dass sich Einrichtungen, in die so viel Infrastruktur und Ausbildung geflossen sind, nur sehr schwer wieder "einstampfen" lassen.

Eine Minimalforderung erscheint mir aber unverzichtbar: Holt die Videoentscheidung zumindest wieder in das Spiel zurück! Schluss mit den unaufgeforderten Eingriffen des Videoschiedsrichters ins Spiel! Gebt jedem Trainer eine blaue oder grüne Karte, damit er - sagen wir, einmal pro Halbzeit - anzeigen kann, dass er eine Entscheidung überprüft sehen möchte! (Wie man das konkret ausgestaltet, also ob hier beispielsweise eine weitere Entscheidung infrage gestellt werden darf, wenn der erste Einspruch berechtigt war, ist diskutabel.) Das letzte Wort gebührt also der Dortmunder Legende Adi Preißler: "Entscheidend is aufm Platz!"

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