Süddeutsche Zeitung

Fußball und Flüchtlinge:1:0 für ein Willkommen

Die Integration von Flüchtlingen beginnt oft auf dem Rasen. Aber haben der DFB und die Vereine aus alten Fehlern gelernt? Eine Bestandsaufnahme

Von Ronny Blaschke

Mehr als zehn Millionen Gastarbeiter kamen in den 1960er und 1970er Jahren in die Bundesrepublik. Die Politik glaubte, dass sie bald dankbar in ihre Heimatländer zurückkehren würden - Integrationskonzepte und Sprachkurse gab es kaum. Auch der Fußball verdeutlichte damals die Parallelwelten. Nur selten stellten die Kommunen den Einwandererteams Sportstätten zur Verfügung. Gemäß den Regeln des DFB durften sie als dritte, vierte oder fünfte Mannschaften in den Vereinen kicken. Man blieb unter sich. Erst 1983 forderte die Sportminister-Konferenz die Integration im und durch Sport, Verbände und Vereine öffneten sich.

Die Folgen dieser Planlosigkeit werden noch lange spürbar sein. Ein Drittel der ehemaligen Gastarbeiter über 65 Jahre ist heute von Armut bedroht, bei Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund liegt der Anteil bei zwölf Prozent, so der Sozialreport des Statistischen Bundesamtes. Zwar sind nunmehr 1,1 Millionen Menschen mit einer Zuwanderergeschichte in deutschen Fußballvereinen aktiv, doch nur wenige bekleiden Führungspositionen. In Präsidien oder Schiedsrichter-Ausschüssen sind ältere Migranten so gut wie nicht präsent.

Die Ursachen von Migration sind 2016 völlig anders als in den Sechzigerjahren. Und doch zeigt sich, wie sich der Sport gewandelt hat. Im vergangenen November stellte der DFB auf dem Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt seine zweite Broschüre zum Thema Flucht vor. Die erste war seit 2015 fast 30 000 Mal verteilt worden. Darin skizziert der Verband, wie Vereine die gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten stärken können: durch offene Trainingsgruppen oder Begegnungsfeste, durch Ausbildungsbörsen oder Schulpartnerschaften, durch Sprachförderung oder Kontakte zu Ärzten und Vermietern.

Bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gilt der Fußball als ein wichtiges Aktionsfeld, weil er sich nach dem Ansteigen der Flüchtlingszahlen vergleichsweise schnell zur Unterstützung bereit erklärt hatte. Aydan Özoğuz hatte mit dem DFB im März 2015 das Programm "1:0 für ein Willkommen" aufgelegt, Bestandteil ist auch eine Anerkennungsprämie für engagierte Vereine von 500 Euro. Fast 3000 Amateurvereine haben diese Förderung erhalten, fast 1,5 Millionen Euro sind dafür also geflossen. Beeindruckend? Allein die Untersuchungen der Kanzlei Freshfields zur WM 2006 haben den DFB mehr als fünf Millionen Euro gekostet. Und ob wirklich in allen Vereinen, die die Prämie erhalten haben, nachhaltige Arbeit mit Flüchtlingen geleistet wird, lässt sich auch nicht ermessen. Wichtig war die Maßnahme trotzdem.

Groß war die Verunsicherung bei den Vereinen schon 2013 und 2014. Wie steht es um den Versicherungsschutz der Flüchtlinge? Unter welchen Umständen erhalten sie einen Spielerpass? Dürfen sie für Turniere den Landkreis verlassen? Anfangs wirkte die Planung der 21 Landesverbände unkoordiniert. Doch spätestens seit Anfang 2016 ist eine grobe Linie erkennbar. Der DFB veranstaltete in Dortmund eine große Konferenz, die auf Experten setzte und weniger auf Prominente. Die Resonanz in Zivilgesellschaft und Politik: positiv.

Die Zahl der Mannschaften geht zurück, oft halten Flüchtlinge die Nachwuchsteams am Leben

Mittlerweile können die Regionalverbände in die Tiefe gehen, ihr Netzwerk mit Beratungsstellen, Sozialämtern oder Jobcentern wächst. Viele Vereine haben erkannt, dass Flüchtlinge im demografischen Wandel eine Bereicherung sein können. Allein 2015 wurden 42 000 Spielberechtigungen an Menschen mit einer Flucht- oder Zuwandergeschichte ausgestellt, drei Mal mehr als 2012. Damit könnte auch ein Abwärtstrend gestoppt werden. 2008 zählte der DFB noch 180 000 Teams in seinem Spielbetrieb, inzwischen sind es 15 000 weniger. Oft haben Flüchtlinge Nachwuchsteams und ganze Jugendabteilungen am Leben gehalten.

Im nächsten Schritt wollen die Verbände nun auch vermehrt Bildungswege aufzeigen. Flüchtlinge können ehrenamtlich Verantwortung übernehmen, als Betreuer, Schiedsrichter, Platzwarte. Oder sie gehen einer bezahlten Vereinstätigkeit nach: im Minijob, Praktikum, im Freiwilligen Sozialen Jahr. Einige Landesverbände wie in Berlin, Schleswig-Holstein oder Bayern haben dafür Experten eingestellt. Kleinere Verbände wie in Mecklenburg-Vorpommern weisen auf Überarbeitung hin. Bei wieder anderen existiert das Thema nur auf dem Papier.

Dennoch ist die deutsche Vereinslandschaft weiter, als die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Medienberichte reduzieren die Debatte bisweilen auf die Sporthallen, in denen Geflüchtete über Monate ausharren mussten - und die den Vereinen dann fehlten. Oder sie stellen Berühmtheiten mit Fluchtbiografie als Integrationshelden dar, etwa Bakery Jatta vom HSV, aufgewachsen in Gambia, oder die Nationalspielerin Fatmire Alushi, geboren im ehemaligen Jugoslawien. Dass mittellose Flüchtlinge etwa aus Syrien auf eine ganz andere Wirklichkeit stoßen, wird weniger herausgearbeitet.

Der DFB trägt mitunter zu dieser Widersprüchlichkeit bei. Auf der einen Seite lädt er Engagierte aus ganz Europa in seine Frankfurter Zentrale ein; der Verband überdenkt seine Trainerausbildung und gestattet Asylsuchenden nun auch außerhalb der Fristen einen Vereinswechsel. Auf der anderen Seite wirkt sein jährlicher Integrationspreis wie ein Relikt aus dem vergangenen Jahrzehnt: Bei der zweistündigen Verleihung im Dortmunder Fußballmuseum im März inszenierten sich Funktionäre und der Generalsponsor als Wohltäter - der Redeanteil der Geflüchteten lag unter fünf Minuten. Das erinnert ein bisschen an manche Theater oder das Filmgewerbe, wo auch intensiv diskutiert wurde, wie man Flüchtlinge einbeziehen soll. Oft dienten sie dann der eigenen Selbstvergewisserung, so dass sich die heimischen Leistungsträger moralisch auf der sicheren Seite fühlen.

Auch im Sport sind die Konzepte mitunter einfacher als die Realität. Integration wird vielfach vor allem mit Anpassung übersetzt. Innerhalb der DFB-Bürokratie wirbt die kleine hauptamtliche Abteilung "Gesellschaftliche Verantwortung" für zeitgemäßere Herangehensweisen. Doch die Vermittlungswege zur Basis sind weit.

In jedem Fall geht Potenzial verloren, denn dass alle immer an einem Strang ziehen, ist auch nicht zu erkennen. Die Bundesliga-Stiftung, das soziale Dach der Profiklubs, hat 2015 eine eigene Offensive gestartet. Unter fachlicher Aufsicht der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung fördert sie mehr als zwanzig "Willkommensbündnisse". In der Regel arbeiten dort Profivereine, Amateurklubs und Bildungsträger mit Geflüchteten zusammen, insgesamt achtzig Organisationen. In Stuttgart ist das Theaterhaus eingebunden, in Bochum das Kommunale Integrationszentrum, in Fürth der Caritasverband.

Der Stab der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung wollte DFB und Bundesliga für Inhalte näher zusammenbringen, doch die Verantwortlichen bleiben reserviert. Auf Distanz dazu wirkt wiederum der Deutsche Olympische Sportbund mit dem schon 1989 gegründeten Programm "Integration durch Sport". Darin fördert der DOSB über seine Landessportbünde Hunderte Schwerpunktvereine, das Bundesinnenministerium gibt dafür jährlich 5,4 Millionen Euro. Aber zwischen Fußballverbänden und Landessportbünden gibt es wenig Abstimmung. Wiederum auf anderen Ebenen erweitern Kommunen, Ministerien oder Wohlfahrtsverbände ihre Zuwendungen. Ehrenamtliche können sich zu "Demokratietrainern", "Sport-Coaches" oder "Konfliktmanagern" ausbilden lassen. Auf Außenstehende kann dieses unkoordinierte Angebot auch abschreckend wirken.

In der Nationalelf ist die Vielfalt schon Normalität, in vielen Fankurven noch nicht

Im Profifußball sind Spieler aus sechzig Nationen aktiv, in den Nachwuchszentren der Profiklubs haben vierzig Prozent der Kicker nichtdeutsche Wurzeln. Bei der WM 1998 hatte kein Spieler des deutschen Nationalteams einen Migrationshintergrund - bei der EM 2016 waren es von 23 Spielern bereits zehn. Verbände und Vereine vermarkten diese Vielfalt sogar - aber warum findet sich diese Vielfalt nicht in den Klub-Geschäftsstellen oder in den Fankurven wieder? Kann die politisch aufgeladene Gegenwart dazu führen, dass die Milliardenindustrie Fußball den Integrationsgedanken näher an ihr Kerngeschäft führt? Noch immer laden etliche Klubs Flüchtlinge zu Heimspielen oder Stadionführungen ein. Noch immer werben sie für Spenden oder Kleiderbörsen. Doch reicht das angesichts ihrer Finanzkraft und Bekanntheit? In der Wirtschaft hat es sich herumgesprochen, dass Gesellschaftspolitik weiter reicht. Es geht nicht darum, wie Unternehmen einen Teil ihrer Gewinne an wohltätige Projekte weiterreichen. Es geht darum, wie sie diese Gewinne überhaupt erwirtschaften.

Einerseits bewerben Klubs ihre Flüchtlingsinitiativen in sozialen Medien, obgleich sie dafür selten mehr als fünfstellige Beträge ausgeben. Andererseits machen sie sich von Sportartikelherstellern abhängig, die in Niedriglohnländern produzieren lassen - und damit indirekt zu Fluchtursachen beitragen.

Wie tief greifend das Engagement im Fußball ist und wie sehr es das Selbstverständnis der Fanszenen beeinflusst, wird erst in einigen Jahren erkennbar sein. Schließlich gibt es auch andere Seiten: Bei den Demonstrationen von Pegida in Dresden und ihren Ablegern in anderen Städten treten auch Fußballfans aggressiv in Erscheinung. Regelmäßig müssen Internetforen von Sportmedien wegen Hetze geschlossen werden. Gerade in den unteren Ligen sind auch feindliche Banner gegen Flüchtlinge zu lesen. Und auf unterklassigen Trainingsplätzen wird genau registriert, wenn Anhänger und Gegner des syrischen Präsidenten Assad beim Kicken in Konflikt geraten.

Wie so oft in der deutschen Geschichte verdichten sich gesellschaftliche Stimmungen in der Volksbewegung Fußball. Ob polnische Industriearbeiter im 19. Jahrhundert oder Weltkriegsflüchtlinge aus Osteuropa, DDR-Vertragsarbeiter aus sozialistischen Bruderstaaten oder Geflüchtete des Jugoslawien-Krieges - immer wieder schufen sich Migranten durch Fußball eine erste Struktur ihres Alltags. Auch in der polarisierten Gegenwart könnte der boomende Fußball mit einer verständlichen Erzählung ein wenig zur Differenzierung beitragen.

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Quelle:
SZ vom 29.12.2016
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