Süddeutsche Zeitung

Stürmer in Europa:Die Alten machen die Strafräume unsicher

Die Fußballsaison wird geprägt von rüstigen Ü30-Torjägern - von Zlatan Ibrahimovic über Cristiano Ronaldo bis zu Sascha Mölders in der dritten Liga. Warum treffen sie alle so gut?

Von Philipp Selldorf

Zwar sind die Zeugen, die im vorigen Jahrhundert in der Stunde null zugegen waren, noch nicht allesamt ausgestorben, aber sie sind seitdem ein merkliches Stück in die Jahre gekommen, jedenfalls weit mehr als jener Mann, der damals in Halmstad sein erstes Spiel als Berufsfußballer machte. Die Mitspieler und die Trainer trugen ortsübliche Namen wie Ohlsson, Hansson, Svensson und Andersson, bloß der junge Kerl, der kurz vor Schluss eingewechselt wurde, hieß ganz anders.

Man schrieb das beinahe teuflische Datum 19.9.99, als Zlatan Ibrahimovic in eine Karriere startete, die nun in ihr 22. Jahr geht - und nach wie vor die größten Koryphäen staunen lässt. Ibrahimovic, sagt etwa Rudi Völler, sei im Kreis der amtierenden Fußball-Weltwunder "die Steigerung von allen anderen".

Für den famosen schwedischen Mittelstürmer war das vergangene Wochenende ein Wochenende wie so viele andere. Mit dem AC Mailand spielte er gegen den FC Crotone, Tabellenführer gegen Tabellenletzter, Ibrahimovic schoss das 1:0 und bald auch das 2:0. Er ließ sich dafür feiern wie eine antike Gottheit, doch das war nicht nur deswegen angemessen, weil ein topfitter 39-Jähriger im Spitzenfußball tatsächlich im Rang einer Antiquität und Sagengestalt steht, sondern auch, weil das 1:0 ein monumentaler Jubiläumstreffer war: Tor Nummer 500 für Zlatan im 825. Pflichtspiel der Karriere.

In Italien spielt auch Ronaldo noch mit 36, Quagliarella gar mit 38

Ibrahimovic ist unbestritten eine Ausnahmeerscheinung, zugleich aber ist er Teil einer internationalen Altenbewegung, die aktuell überall in Europa die Strafräume unsicher macht. Spieler mit Vergangenheit sind in Italiens Serie A seit jeher gern gesehen, doch auch dort stellt es eine Besonderheit dar, dass in der Torjägerliste die alten Herren das Sagen haben: Cristiano Ronaldo, 36, mit 16 Treffern auf dem ersten Platz, Ibrahimovic (14) auf dem zweiten, dahinter der fast 31 Jahre alte Ciro Immobile - und nicht weit entfernt der 38 Jahre alte Fabio Quagliarella, den Juventus im Winter von Sampdoria Genua abzuwerben versucht hatte.

Schon im Sommer hatte sich der Meister aus Turin, selbst eine alte Dame, vergeblich um einen weiteren erfahrenen Stürmer bemüht. Dass der Transfer von Luis Suárez nicht glückte, wird Juve umso mehr betrüben, da der 34 Jahre alte Uruguayer nun souverän die Schützenliste der Primera Division anführt. Am Montagabend traf er wieder zweimal für Tabellenführer Atlético Madrid, indem er zweimal das gleiche machte: Plötzlich tauchte er dort auf, wohin ihn kein Gegner mehr verfolgen konnte, und grätschte den Ball ins Ziel. Das sah einfach aus und war doch wieder Ausdruck einer einzigartigen Kunst.

Auch in Deutschlands Spitzenligen sind die besten Torjäger Spieler, die Trendforscher vor nicht allzu langer Zeit als Männer ohne Zukunft abqualifiziert hätten, wegen ihres spezifischen Berufs als Mittelstürmer und wegen ihrer fortgeschrittenen Laufbahn. Nun aber steht Robert Lewandowski, 32, als Tormaschine weiterhin konkurrenzlos da, während Simon Terodde, der im März 33 wird, den Hamburger SV im Alleingang wohl von der zweiten Liga erlöst, und Sascha Mölders, 35, in der dritten Liga all die grazilen jungen Kollegen hinter sich lässt.

Neben dem TSV 1860 München macht er dabei auch die Kollegen in den Amateurligen glücklich, denn er bezeugt, dass es nicht auf einen Astralkörper ankommt, um im Strafraum zu reüssieren. Nachdem ihn seine Frau in einem Video bei der Zubereitung von Wurstbroten vorgeführt hatte, legte er im BR ein Geständnis ab: Ja, er genieße nach dem Spiel gern eine Pizza und ein Weißbier, und überhaupt: "Sechs Wurstbrötchen - die isst ja wohl jeder."

Mit den Superathleten Ibrahimovic, Ronaldo und Lewandowski ist Mölders nach Ansicht des Experten Völler durch ein Grundgesetz verbunden: "Bei aller modernen Taktik: Am Ende muss einer den Ball über die Linie schieben." Mittelstürmer, sagt er, "laufen vielleicht einen Tick weniger", aber sie sorgen fürs gewünschte Ergebnis, "deswegen sind sie heiß begehrt - und das wird auch so bleiben". Am Montagabend sah sich Bayer Leverkusens Sportchef, der ebenfalls bis ins hohe Alter als Torjäger unterwegs war, wieder bestätigt: "Coman und Gnabry laufen den Ägyptern weg, aber es ist Lewandowski, der zuschlägt." So wie beim WM-Finalgegner Tigres de Monterrey der 35-jährige Franzose André-Pierre Gignac, der beim Championat in Katar schon dreimal getroffen hat. Wie Mölders in München den Wurstsemmeln scheint Gignac in Mexiko den Tacos und Tortillas zuzusprechen, seine Statur lässt es vermuten. Qualität setze sich trotzdem durch, meint Völler mit Blick auf Mölders: "Selbst wenn es hier und da ein Kilo zu viel ist: Da geht er humorvoll mit um und macht den Ball trotzdem rein."

Ibrahimovic ist auch mit 39 bestens bei Kräften

Zum Torjäger muss man wohl geboren sein, Alter schadet dann nicht. Wie kam Rot-Weiss Essen neulich im Pokal gegen Leverkusen weiter? Durch diesen einen Moment des Stürmers Simon Engelmann, 31. Dabei wurde der Beruf der hauptamtlichen Angriffsspitze vor ein paar Jahren als Auslaufmodell gesehen. Kleine, wendige Leute sollten im Strafraum die schrankgroßen Innenverteidiger eindrehen, "falsche Neuner", die zugleich im Mittelfeld als Sechser, Achter und Zehner fungieren konnten, sollten die neuen Torjäger werden.

Der Trainer Pep Guardiola hat Ibrahimovic damals aus Barcelona vertrieben. Vielleicht hatte das damit zu tun, dass Ibrahimovic ihm als ungehobelter Kerl begegnet ist, vielleicht auch damit, dass Guardiola von einer Spielidee besessen war, die so einen Spieler nicht mehr vorsieht. Diesen Plan hat Guardiola selbst längst verworfen, bei Manchester City hat er gern Gebrauch gemacht vom Mittelstürmer Sergio Agüero, 32, der zuletzt aber gesundheitlich zurückfiel.

Ibrahimovic ist auch mit 39 bestens bei Kräften. Wichtig sei jedoch, "ihn als Top-Star zu akzeptieren", sagt der Serie-A-Kenner Völler, und zwar "genauso wie er ist. Dann zahlt er mit Leistung zurück". Woche für Woche aufs Neue.

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