Old Trafford ist einer dieser magischen Orte der Fußballgeschichte, die Heimstatt von Manchester United. "Theatre of Dreams" hat das Stadion jemand getauft, Theater der Träume - die Busby-Babes, die Charlton-Brüder, George Best, David Beckham und Cristiano Ronaldo sind nur einige der Helden, die dort vergöttert werden. Zuletzt war Old Trafford aber eher ein Ort der Albträume. In der Champions League hat United die Qualifikation für die K.-o.-Runde zwar soeben bewerkstelligt. Doch in der englischen Liga liegt der Klub nur auf Rang acht, zwölf Punkte hinter dem Spitzenreiter FC Chelsea.
Vor wenigen Tagen wurde deshalb die Klublegende Ole Gunnar Solksjaer entlassen. Der Torschütze aus dem legendären Champions-League-Finale von 1999 gegen den FC Bayern (2:1) hatte das Trainer-Amt Ende 2018 übernommen. Und nun soll er - Überraschung - durch einen Deutschen ersetzt werden: Ralf Rangnick.
Neben Klopp und Tuchel wäre er der dritte deutsche Chefcoach bei einem englischen Topklub
Wie die Zeitung The Athletic berichtete, soll Rangnick übergangsweise United-Trainer werden, vorerst bis Saisonende. Dies deckt sich mit SZ-Informationen. Demnach standen die Gespräche am Donnerstagabend kurz vor dem Abschluss. Rangnick, 63, wäre dann neben Jürgen Klopp (Liverpool) und Thomas Tuchel (Chelsea) der dritte deutsche Coach bei einem englischen Topklub. Letztmals hatte er 2018/19 als Coach auf einer Trainerbank gesessen, er hielt damals bei RB Leipzig den Platz für den heutigen Bayern-Trainer Julian Nagelsmann warm und führte RB in die Champions League und ins Pokalfinale.
Seit 2012 hatte Rangnick das Leipziger Projekt als Sportdirektor und Teilzeittrainer großgemacht. Ab Sommer 2019 war er als Head of Global Soccer noch für die Koordinierung der weltweiten Filialen von RB zuständig - darunter der brasilianischen Klub Bragantino, der einen ähnlich steilen Aufstieg erlebte wie Leipzig. Neulich war Bragantino noch Zweitligist, am Wochenende verlor das Team das Finale um die Copa Sudamericana.
Seit 2020 war Rangnick bei diversen europäischen Topklubs im Gespräch - vor allem beim AC Mailand, wo sein Engagement letztlich am Widerstand der etablierten Kräfte im Verein scheiterte. Zuletzt gründete Rangnick, der in der Bundesliga einst auch Stuttgart, Hannover, Hoffenheim und zweimal Schalke gecoacht hatte, eine Beratungsagentur, erster größerer Kunde ist dort Lokomotive Moskau. Zudem war er als TV-Analytiker bei Dazn zu sehen. Eine Rückkehr nach Schalke war im Frühjahr nicht zustande gekommen. Sollte Rangnick bei United einen befristeten Trainervertrag bis Mai erhalten, könnte er anschließend als Berater für Manchester tätig bleiben - so ist es jedenfalls mit dem Verein vereinbart worden.
Das Interesse ist auch Ausdruck des Renommees, das sich Rangnick international erworben hat
In den vergangenen Tagen waren die Gerüchte um den Trainerposten bei Manchester United vor allem um den Argentinier Mauricio Pochettino gekreist, den aktuellen Coach von Paris Saint-Germain. Er hat sich in der Premier League einen guten Namen gemacht, unter anderem führte er Tottenham Hotspur 2019 ins Finale der Champions League. Eine sofortige Verpflichtung Pochettinos galt aber als nicht umsetzbar, weil PSG kein Interesse hatte, Pochettino ziehen zu lassen. Der Südamerikaner hatte erst zu Jahresbeginn den heutigen Chelsea-Coach Thomas Tuchel ersetzt.
In den vergangenen Tagen - PSG war wegen der Champions League bei Manchester City zu Besuch - verwies Pochettino zwar auf seinen bis 2023 laufenden Vertrag in Paris. Und eine sofortige Demission stand außerhalb jeder Vorstellungskraft, weil er im Falle eines Rücktritts die Aufgabe hergegeben hätte, eine Mannschaft mit schillernden Figuren wie Messi, Neymar und Mbappé zu Erfolgen führen zu können. Andererseits klang Pochettino auch nach der 1:2-Niederlage von Paris im City-Stadion so, als würde er sich regelrecht danach sehnen, auf offener Bühne mit United zumindest zu flirten.
Währenddessen nahmen die Spekulationen um eine Interimstrainer-Lösung bei United Fahrt auf. Gehandelt wurden der Franzose Rudi Garcia, der Spanier Ernesto Valverde, der frühere BVB-Coach Lucien Favre - aber die Wahl fiel offensichtlich auf Rangnick. Dies darf durchaus als Überraschung gewertet werden. Rangnick hat sich vor allem als Klubentwickler in Hoffenheim und Leipzig einen Namen gemacht - mit einem ganzheitlichen Ansatz, der beide Vereine nach seinen Vorstellungen aus unteren Ligen weit nach oben brachte. ManUnited ist im Gegensatz dazu ein vor Geschichte triefendes, aber komplexes Gebilde, in dem das Klub-Establishment gehörigen Einfluss nimmt - allen voran: Trainer-Legende Sir Alex Ferguson.
Das Interesse ist aber auch Ausdruck des Renommees, das sich Rangnick international erworben hat. Im Vorjahr warb nach SZ-Informationen auch der heutige Barcelona-Präsident Joan Laporta sehr um Rangnick. Es gab im Wahlkampf einen intensiven Austausch über ein Engagement Rangnicks für den Fall eines Sieges von Laportas im Präsidentschaftswahlkampf des Traditionsklubs, der dann auch eintrat. Damals spielte dort noch der mittlerweile nach Paris abgewanderte Lionel Messi. Die Gespräche verliefen im Sande, dem Vernehmen nach war sich Rangnick aus einer Reihe von Gründen nicht sicher, ob er in Barcelona am richtigen Fleck wäre. Der von Laporta skeptisch beäugte, aber dann doch lange tolerierte Ronald Koeman blieb, bis der erfolglose Niederländer vor zwei Wochen durch Xavi ersetzt wurde.
Nun wird der bekennende Konzepttrainer Rangnick zwar nicht den Helden Messi trainieren, wohl aber - wenn sich die Verpflichtung bestätigen sollte - den ewigen Rivalen des Argentiniers und eine andere Lichtgestalt des Fußballs: Cristiano Ronaldo kehrte ja im Sommer aus Turin nach Manchester zurück. Ob Rangnick schon am Sonntag beim FC Chelsea sein Premier-League Debüt feiern wird, gilt als fraglich. Seit dem EU-Austritt Großbritanniens muss viel Papierkram erledigt werden. Aber ein Auftaktspiel von Rangnick gegen Tuchel - das wäre großes Theater.