Christian Wück hatte schon angekündigt, was dieses Spiel am Freitagabend im Wembley-Stadion für ihn sein würde. Nicht nur seine Premiere als Bundestrainer, sondern auch das erste von insgesamt vier Experimenten, die er bis zum Jahresende noch durchführen will. Vier Tests, die ihm dabei helfen sollen, jene Spielerinnen besser kennenzulernen, die er gedenkt, möglichst lange und möglichst erfolgreich an der Seitenlinie anzuleiten. Und ein bisschen dürfte Wück sich danach gefühlt haben, als hätte er selbst auf dem Platz gestanden.
Der 51-Jährige konnte kaum still stehen, er lief, er gestikulierte, er rief von Anfang bis zum Schluss. Angestrengt schaute er auf den Platz, auf dieses wilde Hin und Her. Und als es vorbei war, als das deutsche Nationalteam gegen England mit 4:3 gewonnen hatte, ging er so ruhig zur Bank, als habe er all seine Emotionen, all seine Energie aufgebraucht. Wie seine sechs Vorgängerinnen und Vorgänger hat Wück seine Amtszeit mit einem Sieg begonnen - auf eindrucksvolle Art.
„Das Spiel heute haben die Spielerinnen alleine gewonnen. Es wäre falsch, alles auf den neuen Trainer zu schieben“, sagte Wück nach seinem Einstand in der ARD. Der neue Bundestrainer übte indes auch etwas Kritik: „Man muss abgeklärter sein.“ Giulia Gwinn sprach von einer „Achterbahnfahrt der Gefühle. Da war einfach alles dabei: Tore, Elfmeter, Abseitstore, Pfostentreffer.“
Fußball-Nationalteam:Die Kennenlernphase beginnt
Gegen Europameister England im Wembley-Stadion beginnt der Umbruch bei den DFB-Frauen: mit Bundestrainer Christian Wück und ohne prägende Spielerinnen wie Alexandra Popp. Einiges wird sich nun ändern.
Wer bei diesem Spiel auf dem Platz stehen würde, war in diesem Fall mit noch mehr Spannung erwartet worden. Schließlich war es die erste Aufstellung von Wück als Bundestrainer des deutschen Frauenteams. Und es war klar, dass er mehr Veränderungen vornehmen musste, als er es sonst wohl vorgehabt hätte.
Ohne die zurückgetretene Abwehrchefin Marina Hegering und die angeschlagene Kathrin Hendrich fehlte die eingespielte Innenverteidigung. Die Defensivreihe vor Torhüterin Ann-Katrin Berger bildeten somit Giulia Gwinn, Sara Doorsoun, Janina Minge und Sarai Linder. Im Mittelfeld setzte Wück auf die Doppelsechs Elisa Senß und Sjoeke Nüsken. Eins weiter vorne wirbelte Linda Dallmann, auf den Außenpositionen spielten Jule Brand und Klara Bühl. Und weil für die Offensive kurzfristig auch noch Lea Schüller und Laura Freigang ausfielen, erlebte Leipzigs Stürmerin Giovanna Hoffmann den vielleicht besten Rahmen für ein Nationalelf-Debüt, den man sich vorstellen kann.
Der neue Bundestrainer bekommt gegen England eine wilde Anfangsphase zu sehen
Und schon in der zweiten Minute war sie an einem Tor beteiligt. Nach einem Ballverlust von Englands Kapitänin Leah Williamson rannte Hoffmann los, passte auf Linda Dallmann - und weil diese von Millie Bright im Strafraum zu Fall gebracht wurde, gab es als Gastgeschenk erstmal einen Elfmeter. Sehr freundlich, denn an diesem Abend kamen unweigerlich Erinnerungen auf an die letzte Begegnung dieser Teams in diesem Stadion: EM 2022, Finale, 2:1 nach Verlängerung für die Engländerinnen nicht zuletzt deshalb, weil ein Handspiel genauso wenig geahndet wurde wie ihr offensichtliches Zeitspiel in der Schlussphase.
Vom damaligen Kader waren zweieinhalb Jahre später immerhin noch acht Deutsche bei der Neuauflage des EM-Endspiels dabei. Kapitänin war nun nicht die vor wenigen Wochen zurückgetretene Alexandra Popp, sondern Giulia Gwinn. Die Rechtsverteidigerin übernahm dann auch direkt Verantwortung beim Elfmeter - und verwandelte verlässlich zur Führung in der dritten Minute. Wück lächelte erleichtert. England hätte durch Alessia Russo beinahe ausgeglichen, weil Lauren Hemp zuvor aber im Abseits stand, jubelten ihre Anhänger unter den 47 967 Zuschauern nur kurz - und verstummten danach ganz. Denn Klara Bühl belieferte mit einem präzisen Diagonalpass auf die rechte Seite Gwinn. Sie legte sich den Ball zwar etwas zu weit vor, aber noch bevor ihr irgendein Fuß in die Quere kommen konnte, zog sie aus 15 Metern flach an den linken Innenpfosten zum 0:2 ab. Wück reckte seine geballten Fäuste in die Höhe. So dürfte er sich seine Premiere nicht mal erträumt haben.
Der 51-Jährige bekam eine wilde Anfangsphase zu sehen, die er unruhig an der Seitenlinie beobachtete. Auf einmal tauchte Alessia Russo vor Torhüterin Ann-Katrin Berger auf und zog auf ähnliche Weise wie Gwinn ab. Diesmal allerdings lenkte der Pfosten den Ball vom Tor weg. Die DFB-Frauen hatten mutig begonnen, mit viel Feuer in der Offensive. Bei dem hohen Tempo, das die Engländerinnen mitgehen konnten, kam es jedoch auch zu Fehlern und Ballverlusten, die den neuen Bundestrainer sichtbar in Rage brachten. Einmal machte er auf dem Rasen kehrt und stapfte mit ausgebreiteten Armen und verärgerten Sätzen auf die Bank zu. Und vielleicht hatten es davon vereinzelte Fetzen durch den Lärm zu seinen Spielerinnen geschafft, denn was dann passierte, besänftigte Wück wieder.
Erneut war es Hoffmann, die mit einem idealen Steilpass auf die linke Seite zur Vorlagengeberin wurde, wo Bühl wartete und entschlossen nach vorne lief. Statt abzuspielen, zog Bühl ab, und wie: ganz cool ins linke Eck, knapp eine halbe Stunde war da vorbei. Und wer weiß, wie dieser Abend verlaufen wäre, wenn es keinen Videoschiedsrichter gegeben hätte, wie es im Frauenfußball ja längst keine Selbstverständlichkeit ist. Kurz nach Bühls Treffer jedenfalls bekam Gwinn nach einer Flanke den Ball an den Arm, die Szene wurde geprüft, und Schiedsrichterin Marta Huerta entschied auf Elfmeter. Berger war bei den Olympischen Spielen zwar zur Heldin avanciert durch ihre Paraden gerade bei Strafstößen. Diesem Schuss von Bayern Münchens Georgia Stanway aber vermochte sie trotz richtig gewählter Ecke nichts entgegenzusetzen.
33 Minuten waren nun gespielt mit einer Intensität, die für mehrere Partien gereicht hätte. Doch es ging genau so weiter. Die Engländerinnen erhielten viel Freiraum für eine Ballstaffette und nutzten das eiskalt aus. Beth Mead gab den Ball von rechts nach innen zu Stanway, Berger kam raus, aber Stanway drosch den Ball in der 36. Minute einfach über die deutsche Torhüterin ins linke Eck zu ihrem Doppelpack. Verschnaufpause? Fast. In der fünften Minute der Nachspielzeit versuchte es Dallmann aus 30 Metern. Ein Schuss, der es verdient gehabt hätte, belohnt zu werden, aber an der Latte abprallte.
Selbst diverse Wechsel nach der Pause bringen nicht viel durcheinander
Die ersten gemeinsamen Tage hatte Wück nicht überfrachten und lieber Details weitergeben wollen. Die Taktik ging auf, selbst diverse Wechsel nach der Pause brachten nicht viel durcheinander. Erst kamen Felicitas Rauch für Linder und Selina Cerci für Hoffmann (46.), später Sara Däbritz für Nüsken und Pia-Sophie Wolter für Gwinn (63.) sowie Sophia Kleinherne für Doorsoun (68.) und Vivien Endemann für Bühl (83.)
Jule Brand hätte beinahe erhöht, weil aber zuvor Gwinn im Abseits stand, zählte ihr Treffer in der 51. Minute nicht. Aber den Druck hielten die Deutschen unaufhörlich hoch. Es war dann ein Standard, der sie wieder jubeln ließ: Nach einem Freistoß gab es Tumult im englischen Strafraum, Alessia Russo traf beim Versuch, den Ball in der Luft zu erwischen, den Fuß von Wolter. Schiedsrichterin Huerta zeigte auf den Punkt. Und wieder war es die Kapitänin, die sich den Ball nahm. Die Binde von Gwinn hatte bei deren Auswechslung Däbritz übernommen. Mit gleicher Entschlossenheit verwandelte sie zum 4:2 in der 72. Minute.
Dann: Wieder ein Abseitstreffer, diesmal von Lauren Hemp. Sowie ein Tor der wirklich ärgerlichen Sorte. Den Freistoß von Hemp hatte Berger schon vermeintlich fest in den Händen, ließ ihn fallen und dann war Lucy Bronze zur Stelle. Inklusive Nachspielzeit war noch eine Viertelstunde zu spielen. Ärgern musste der Bundestrainer sich aber nicht mehr.