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Fußball: Nationalmannschaft:Vorwärts ohne Stamm-Elf

Zuletzt spielte die deutsche Nationalmannschaft mit einer behelfsmäßig gebastelten Elf, aber niemand würde sie B-Elf nennen. Die WM 2010 war nur der Anfang einer Entwicklung, die sich ständig überholt.

Philipp Selldorf

Der Bundestrainer hat nach dem 3:1 in Baku behauptet, die Zulassung zur EM sei nun "zu 98 Prozent" erreicht. Aber was ist mit den übrigen zwei? Anfang September geht es in Gelsenkirchen gegen die starken Österreicher, im Oktober in Istanbul gegen die starken Türken sowie in Düsseldorf gegen die starken Belgier.

Jedes Spiel enthält also die akute Gefahr einer Niederlage - und was dann? Zieht womöglich die Türkei noch vorbei, und Deutschland müsste geschlagen und gedemütigt in eine mörderische Relegation eintreten.

Solche alarmierenden Gedankenspiele haben im deutschen Fußball seit Jahrzehnten Tradition, aber nie wirkten sie so irreal und absurd wie heute. Bei dieser Mannschaft kann man sich nicht mehr vorstellen, dass sie ihre Pflichten nicht erledigt. Für diese strebsamen deutschen Profis scheint es die klassischen Tücken auf dem Weg zu den Turnieren nicht mehr zu geben - wie einst für ihre Ahnen, die gegen Albanien, Zypern oder Wales gelitten haben.

Diese Mannschaft ist wie ihr Anführer Philipp Lahm, der in Baku meinte, zuerst Folgendes sagen zu müssen: "Natürlich haben wir nicht so gespielt, wie wir uns das vorgestellt haben, natürlich können wir alle besser spielen." Dabei wäre es wirklich niemandem eingefallen, die anerkannt ermattete DFB-Elf ernsthaft zu kritisieren für ihren Auftritt. Im siebten Spiel der siebte Sieg, darum ging es. Sogar Lahm lobte: "Das ist perfekt."

Es ist kein Widerspruch, dass diese Superbilanz nicht zuletzt auf dem Verschwinden eines alten deutschen Leitbildes beruht. Das Prinzip der Stamm-Elf ist abhanden gekommen, besonders die Vorsaison mit ihren Umwälzungen im Mikro- und Makromaßstab hat dem über Generationen vererbten Motiv nicht gut getan. In Baku spielte eine behelfsmäßig gebastelte Elf, aber keinem kam der Gedanke, sie eine B-Elf zu nennen.

Während der WM 2010 schien ein neues Team entstanden zu sein, das mittelfristig nur hier und da zu modellieren sei; aber es war nur der Anfang einer Entwicklung, die sich ständig überholt. Löw misstraut zwar der neuerdings herrschenden Meinung, dass er sich kaum mehr retten könne vor den Talenten aus den Internaten. Doch er macht produktiv Gebrauch von den jungen Begabungen.

Wohin das führt, weiß wie immer kein Mensch. Zunächst mal in die Situation, dass Löw die verbliebenen Qualifikationsspiele mehr oder weniger als Testpartien nutzen kann. Bloß die fehlenden zwei Prozent dürfen die Deutschen nicht vergessen.

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Quelle:
SZ vom 09.06.2011
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