Süddeutsche Zeitung

Nationalmannschaft:Der Kader eines Pragmatikers

Hansi Flicks zweites Länderspiel-Aufgebot zeigt den Stil des neuen Bundestrainers. Auf Mats Hummels verzichtet er - vorerst. Oder für immer?

Von Christof Kneer

Am 16. September hat sich Hansi Flick das Spiel von Eintracht Frankfurt gegen Besiktas Istanbul angesehen. Zwei Tage später wurde er auf der Tribüne des 1.FC Köln gesichtet, am nächsten Tag saß er in Stuttgart neben dem Vorstandschef Thomas Hitzlsperger. Von Stuttgart aus fuhr er zum zweitägigen Trainerworkshop nach Frankfurt, möglicherweise hatte er danach kurz mal Gelegenheit, im heimischen Bammental das Gepäck zu wechseln. Weiter ging die wilde Fahrt nach London, wo er gemeinsam mit seinem Trainerstab drei Spiele begutachtete und den vertrauten Kollegen Tuchel, Guardiola und Klopp die Hände schüttelte. Auch Dortmund und München waren Ziele auf Flicks erster Bildungsreise, die am Sonntag vorläufig enden wird. In München schaut sich Flick wieder den FC Bayern an, diese ewige Sehenswürdigkeit.

Zwei Fragen drängen sich auf, wenn man Flicks Reisewege zur Kunst nun noch mal Revue passieren lässt. Warum lässt er die Öffentlichkeit so ausführlich in seinen Routenplaner blicken? Und wann findet er bei all dem Packen, Fliegen, Händeschütteln und Spieleschauen noch die Zeit, einen seriösen Länderspielkader zu nominieren?

Die Antwort auf die erste Frage ist offensichtlich: Flick will beweisen, dass er da ist. Er war lange genug Assistent von Joachim Löw, er kennt das Gespöttele über die Arbeitsweise des ehemaligen Bundestrainers: dass Löw gerne Spiele im heimischen Freiburg geschaut hat und nach dieser knüppelharten Schicht gleich wieder in den Urlaub musste, falls er nicht gerade erst aus dem Urlaub gekommen war. Dass Löw manchmal die Trainerkollegen in der Liga vergrätzt hat, weil er ihre Tagungen schwänzte. Dass er manchmal nicht auffindbar war und erst wieder auftauchte, als der Verband kurz davor war, einen Finderlohn auszuloben. Der neue Bundestrainer Flick will Fleiß, Tatkraft und Solidarität demonstrieren, deshalb lässt er den DFB auch seine Termine rumschicken. Er will auch außerhalb der Länderspiel-Kampagnen auffindbar und ansprechbar sein.

Und was die zweite Frage angeht: Die Herstellung eines Länderspiel-Aufgebots ist im Moment keine große Anstrengung für Flick und sein Trainerteam. Es ändert sich ja nicht so viel.

In einem Telefonat haben Flick und Hummels eine Pause vereinbart

"Wir haben den Kader etwas reduziert, weil wir nur zwei Länderspiele haben und den Kader eher klein halten wollten", erklärte der Bundestrainer, als er am Freitag sein Aufgebot für die WM-Qualifikationsspiele gegen Rumänien (8. Oktober) und in Nordmazedonien (11. Oktober) herausgab. Statt 26 Fußballern stehen nur noch 23 auf der Liste, auf Sensationen hat Hansi Flick aus einem einleuchtenden Grund verzichtet: weil er Hansi Flick ist.

Flick nominiert, wie er coacht, er ist ein überzeugter Pragmatiker. Als Trainer ist er nicht auf der Suche nach der genialen taktischen Weltformel, auch als Kaderpolitiker hat er keinerlei Interesse an einer melodramatischen Pointe. Weder würde er beispielsweise Mats Hummels einen Stammplatz bis inklusive des WM-Finales 2022 versprechen noch würde er ihn aus seinem Kader ausschließen - um ihn dann eventuell, wie der Vorgänger Löw, unter allerlei Geraune wieder zurückholen zu müssen. Flick ist ein Warum-sollte-ich-sowas-tun-Trainer, der sich demonstrativ alle Optionen offenhält.

Auf diese Art hat er nun auch den Verzicht auf Hummels erklärt: "Ich kenne Mats schon sehr lange, ich weiß, was er einer Mannschaft geben kann. Wenn er topfit ist, ist er für jede Mannschaft ein Gewinn." Allerdings habe er mit Hummels in einem längeren Telefonat vereinbart, "dass der Oktober ganz gut geeignet ist, dass er an seiner Fitness arbeitet, dass er wirklich bei 100 Prozent ist". Hummels solle "jetzt den Fokus auf sich" legen und "die Zeit nutzen, um zu trainieren".

Mit diesen unspektakulären Sätzen kann Flick alles anstellen, ohne dass ihn jemand jemals einen Umfaller nennen könnte. Er kann Hummels wieder dazu nehmen oder ihn einfach weiter draußen lassen, und tatsächlich ist im Moment beides möglich. Flick schätzt Hummels' Spielaufbau und seine Autorität, aber er weiß auch, dass er für sein Spielsystem eigentlich Verteidiger braucht, die schneller sind, als Hummels je war. Flick wartet ab. Er kann es sich leisten abzuwarten.

Robin Gosens verletzt? Dann ist jetzt eben David Raum dran

Mit dieser Strategie versucht Flick, einen Kader für die WM 2022 in Katar zu entwickeln. Er vertraut einem festen Block von einem Dutzend unantastbaren Spielern, und hinter diesem Block hat er einen Vorraum mit einer Drehtür installiert, in dem viele Kandidaten ein bisschen drin sind - wenn sie die Leistung bringen, die Flick fordert. Auf diese Weise hofft er auch immer genügend Kandidaten zu haben, um etwaige Verletzungsprobleme zu lösen. So wird er fürs Erste auf Robin Gosens verzichten müssen, der mit einer schweren Oberschenkelverletzung zwei bis drei Monate fehlen wird. "Ein herber Schlag" sei das, sagt Flick, hat dabei aber schon wieder die Drehtür im Blick. Da steht der junge David Raum aus Hoffenheim, ein offensiver Linksverteidiger wie Gosens. Bei den vergangenen Länderspielen durfte er sich zum Spaß schon mal ein bisschen eingewöhnen, und jetzt wird's eben ernst.

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