Fußball:Mitten im Licht

Fußball: Sie wissen wieder, wofür sie stehen: Die Kickers mit Trainer Marco Wildersinn.

Sie wissen wieder, wofür sie stehen: Die Kickers mit Trainer Marco Wildersinn.

(Foto: Frank Scheuring/foto2press/Imago)

Im Mai lagen die Würzburger Kickers noch in Trümmern - jetzt hat sich alles gedreht. Eindrücke von einem Klub, der wieder er selbst ist

Von Sebastian Leisgang

Ein Vormittag in dieser Woche, Marco Wildersinn, dunkelblaues Hemd, hellblaue Jeans, empfängt in der Geschäftsstelle der Würzburger Kickers. Im Flur sind Trikots längst vergangener Tage an der Wand angebracht, im Besprechungsraum hängt ein Glasbild eines Elfmeterpunkts, darunter der Schriftzug: 4. Juli 2020, 15:54:32 Uhr.

Klar, ein Moment, der diese Tragweite hat, will exakt festgehalten sein. War ja was Großes, damals, als Sebastian Schuppan die Kickers mit einem Strafstoß in der Nachspielzeit des letzten Saisonspiels zum Zweitligisten machte. Jetzt sitzt Wildersinn, 41, im Besprechungsraum und hat beste Sicht auf das Bild. Natürlich kennt Würzburgs Trainer die Geschichte des Klubs: dass es 2014 unter Bernd Hollerbach in Windeseile hoch hinaus ging, dass Michael Schiele den Verein später wieder zurück in die zweite Liga führte - und dass die Kickers dann im Chaos versanken.

"Am Anfang hat man schon Bedenken und fragt sich: Läuft das hier so weiter, wie es zuletzt war?", sagt Wildersinn im Besprechungsraum, "ich habe dann aber gemerkt, dass sich hier einiges ändern wird, weil die handelnden Personen einiges ändern wollen." Deshalb ist er im Sommer nach Würzburg gekommen - und deshalb sitzt er jetzt hier, um zu erklären, wie die Kickers wieder zu sich gefunden haben.

In den vergangenen zwei Jahren hatten die Kickers aus den Augen verloren, wofür sie eigentlich stehen

Hinter Wildersinn gibt ein Fenster den Blick ins Stadion frei. Der Platz, sattes Grün, liegt da wie eine Matratze, die Flutlichtmasten ragen weit nach oben, als würden sie Wildersinn über die Schultern schauen, um sicherzugehen, dass da unten alles rundläuft. Und tatsächlich, auch dank ihm, Wildersinn, ist mittlerweile nicht nur Licht am Ende des Tunnels zu sehen - die Kickers haben den Tunnel längst durchfahren und sind jetzt im Licht. Nach dem ersten Drittel der Saison steht die Mannschaft in der Regionalliga ganz oben: zwölf Spiele, 26 Punkte, 40:12 Tore. Noch erstaunlicher ist aber, wie schnell sich abseits des Rasens alles wieder gedreht hat am Dallenberg.

In den vergangenen zwei Jahren hatten die Kickers ja nicht nur ein Fußballspiel nach dem anderen verloren, sondern, und das wog noch viel schwerer: Sie verloren auch aus den Augen, wofür sie eigentlich stehen und wer sie überhaupt sind.

"Wir haben damit gebrochen, was die Kickers ausmacht", sagte Benjamin Hirsch im Sommer und ließ damit ziemlich tief blicken. Eine schlechte Außendarstellung, ständig Unruhe, ein Bruch mit den Fans: Die Kickers, das gab der neue Vorstandsvorsitzende offen zu, waren auf die schiefe Bahn geraten. Der Verein habe zwar oft davon gesprochen, sich als Familie zu verstehen, urteilte Hirsch - im Alltag habe er aber das Gegenteil gelebt. Als Hirsch das sagte, saß er in seinem Büro in der Würzburger Innenstadt, weit oben über den Dächern, auf Augenhöhe mit den Kirchtürmen. Unten liefen die Leute durch die Fußgängerzone, und um diese Leute ging es ihm jetzt. Er wolle sie wieder abholen und mitnehmen, sagte Hirsch, das stehe für ihn ganz oben.

Hirsch, 43, hat gute und schlechte Zeiten mitgemacht. Er war dem Verein schon verbunden, als die Kickers noch in der Landesliga spielten, auch später war er Teil des Klubs, als der VfB Stuttgart und der Hamburger SV an den Dallenberg kamen - und er erlebte mit, als es in den vergangenen zwei Jahren drunter und drüber ging.

Jetzt führt Hirsch einen Verein, der, diesen Eindruck hat man, wieder er selbst ist.

"Keiner hat Lust auf einen Schleudersitz", sagt Trainer Wildersinn. Hier habe er das Gefühl, mitgestalten zu können

Auf einmal, das Gespräch im Besprechungsraum dauert schon gut eine halbe Stunde, da dreht Wildersinn den Spieß um und fragt: "Wie viele Einwürfe gibt's im Spiel? Dreißig? Vierzig?" Kurze Pause, dann erklärt er, worauf es bei einem guten Einwurf ankommt, was es zu beachten gilt und wie sich die Spieler zu bewegen haben. Mag nebensächlich sein, irgendwie trivial, vielleicht sogar belanglos, zeigt aber doch eine Menge. Dass Wildersinn jetzt minutenlang über Einwürfe auf Höhe der Mittellinie referiert, heißt ja auch, dass es bei den Kickers mittlerweile wieder um das geht, worum es in den vergangenen zwei Jahren nur selten ging: um Fußball, um das Spiel.

An diesem Samstag (14 Uhr) empfängt Würzburg die zweite Mannschaft des FC Augsburg. "Das, was wir gerade auf den Platz bringen, ist schon relativ nahe an dem, was ich sehen will", sagt Wildersinn und hat auch dann leuchtende Augen, wenn es um die Fans geht. "Die Zuschauer haben meine Erwartungen weit übertroffen", sagt Würzburgs Trainer und gesteht dann: "Vor dem ersten Spiel dachte ich: Boah, wäre super, wenn 1000 kommen würden." Jetzt sind es beinahe doppelt so viele. Eine Zahl, die jene deutlich übersteigt, die Wildersinn aus seiner Zeit bei der TSG Hoffenheim kennt.

Als er noch im Nachwuchs des Bundesligisten tätig war, mehr als sieben Jahre lang, da arbeitete er Seite an Seite mit Julian Nagelsmann. Eine prägende Zeit, weil sich Wildersinn ausprobieren konnte und Tag für Tag dazulernte. Inzwischen ist er ein gestandener Trainer und sagt Sätze wie: "Keiner hat Lust auf einen Schleudersitz. Ich wollte im Sommer zu einem Verein, bei dem ich das Gefühl habe, dass ich mitgestalten kann - das ist hier der Fall."

Auch deshalb sind die Kickers jetzt erfolgreich. Wildersinn redet mit, Wildersinn plant mit - und auf dem Feld liefert seine Mannschaft derart ab, wie es eine Würzburger Mannschaft schon lange nicht mehr getan hat. Genau genommen, im Besprechungsraum ist es festgehalten, seit dem 4. Juli 2020.

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