Three LionsEnglands kraftloses Aufgebot

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Hört ihr mir gut zu? Oder seid ihr dafür zu schlapp? Englands Nationaltrainer Gareth Southgate im Kreise seiner Spieler.
Hört ihr mir gut zu? Oder seid ihr dafür zu schlapp? Englands Nationaltrainer Gareth Southgate im Kreise seiner Spieler. (Foto: Lee Smith/Reuters)

Nationaltrainer Gareth Southgate hat eine Mannschaft nominiert, die sich zwar auf dem Papier sehen lassen kann, nicht aber auf dem Platz. Dass er nun im Wettkampfmodus experimentiert, stößt auf landesweite Kritik.

Von Sven Haist, München

Am liebsten hätte Gareth Southgate bei der Bekanntgabe seines Kaders für die aktuellen Nations-League-Spiele auf die Nominierung all seiner Stammkräfte verzichtet. Als exemplarisch für die Sichtweise von Englands Nationaltrainer galt seine Absprache mit Liverpool-Kapitän Jordan Henderson. Southgate hatte ihn nach einer hochstrapaziösen Saison mit dem Klub vorzeitig in den Urlaub geschickt. Allerdings konnte er sich diese rücksichtsvolle Milde nicht mit vielen weiteren Spielern leisten - angesichts der herausfordernden Gruppengegner Deutschland, Italien und Ungarn.

Deswegen kratzte Southgate letztlich ein Aufgebot zusammen, das sich auf dem Papier zwar sehen lassen kann, aber nicht auf dem Platz. Eben weil die meisten Spieler eine ähnliche Schaffenspause benötigen würden wie Henderson. Und so handelten sich die Engländer mit einem lustlosen Auftritt am Samstag ein 0:1 in Ungarn ein, bei dem den Betrachter bei manch einer Aktion der Verdacht überkam, Southgates Profis würden im schwülwarmen Budapest zur selben Zeit lieber am Donauufer chillen. Die erste Niederlage im Duell mit Ungarn seit 60 Jahren löste im immerzu aufgeregten Mutterland des Fußballs vor dem Länderspiel-Klassiker gegen Deutschland sofort Alarmstimmung aus. Diese dürfte einerseits Basis für eine Spitzenleistung sein, andererseits jedoch so kurz vor der Sommerpause nochmal besonders an die Reserven gehen - und viel Kraft ist den Three Lions nicht mehr geblieben.

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Um die Probleme zu veranschaulichen, mit denen sich Southgate konfrontiert sieht (und vor denen er vorab warnte), muss man in der Defensive beginnen. Im Mai berief der Nationalcoach sagenhafte elf Abwehrspieler in seinen 26-Mann-Kader, davon wiederum allein sieben Spieler, die sich auf der Position des Innenverteidigers im Nationaltrikot bewährt haben. Allerdings reduzierte sich die üppige Auswahl schlagartig, als sich zunächst Ben White verletzungsbedingt abmeldete und es sich zudem abzeichnete, dass sowohl Fikayo Tomori als auch Marc Guéhi für die ersten beiden Partien kaum rechtzeitig fit werden würden. Von den verbleibenden vier Optionen kehrten die etatmäßigen Akteure John Stones (Manchester City) und Harry Maguire (Manchester United) nach ständig wiederkehrenden Beschwerden erst am letzten Premier-League-Spieltag vor zwei Wochen auf den Platz zurück, während Kyle Walker (City) zuletzt angeschlagen gar nicht zum Einsatz kam. Daher stand lediglich Conor Coady (Wolverhampton) als spielfähiger Haudegen zur Verfügung - was natürlich nicht ausreichte, um eine standesgemäße Abwehrkette zu formen.

Um die Entrüstung zu besänftigen, bemühte Southgate den Blick aufs Gesamtbild

Weil Southgate im Hinblick auf die Partie gegen Deutschland unbedingt Stones schonen wollte und gleichzeitig Bedenken an den Sprint- und Antrittsqualitäten eines Duos Coady/Maguire anmeldete, entschied er sich für die aus seiner Sicht einzige Alternative: eine Dreierriege, bestehend aus Walker, Coady und Maguire. Diese Anordnung rief jedoch die Kritik der teils gnadenlosen Inselpresse auf den Plan, die nicht nachvollziehen konnte, warum das Trainerteam gegen die Ungarn - gerade wegen der angespannten Personallage - nicht schon von Beginn an auf eine Viererkette setzte, um zumindest einen Zentralverteidiger einzusparen. Am Montag führten die einflussreichen Zeitungen darüber seitenlange Taktikdebatten. Dabei kam vor allem einer schlecht weg: Gareth Southgate. Die Times rief ihm sogar zu, er solle "sein Sicherheitsdenken" ablegen und eine "mutigere Formation" wählen. Denn bis zur Umstellung auf ein 4-3-3 hätte sich in der 3-4-3-Ausrichtung "niemand" wohl gefühlt. Southgate dagegen bestand darauf, keiner seiner Spieler habe auf einer "ungewohnten Position" agiert.

Einer der möglicherweise überspielten Profis in Englands Nationalmannschaft: Stürmer Harry Kane (in weiß) müht sich in der Partie gegen Ungarn.
Einer der möglicherweise überspielten Profis in Englands Nationalmannschaft: Stürmer Harry Kane (in weiß) müht sich in der Partie gegen Ungarn. (Foto: Nigel Keene/Imago)

Um die Entrüstung zu besänftigen, bemühte Southgate den Blick aufs Gesamtbild: Er habe schon vor diesen Länderspielen geahnt, dass seiner Elf "einige schmerzhafte Ergebnisse" bevorstehen könnten. Denn er, Southgate, müsse durch "das Wegfallen von Testspielen" nun im Wettkampfmodus experimentieren, um seine Schlüsse für die WM in Katar zu ziehen. Dafür sei er bereit, den Preis "des Unvermeidlichen" zu bezahlen, das mit Niederlagen einhergehe: nämlich Medienkritik. Bei seiner geschickt formulierten Stichelei gegenüber dem Inselboulevard ließ Southgate nicht unerwähnt, dass er einige Spieler "verheizen" würde, wenn er die Spielzeit nicht angemessen aufteile.

Der Disput zwischen Southgate und den Berichterstattern trübt die Sicht auf die eigentliche Sachlage rund ums Nationalteam. Erstmals seit dem legendären 5:1 über Deutschland im WM-Qualifikationsspiel 2001 im Münchner Olympiastadion reist die englische Delegation wieder als Favorit zum Erzrivalen. Bei der vergangenen Europameisterschaft war es den Engländern dank des Achtelfinalsieges in London-Wembley sogar gelungen, die Ära des Weltmeistertrainers Joachim Löw zum sofortigen Einsturz zu bringen. In der Weltrangliste haben die Engländer inzwischen die Deutschen überholt. Das bekommt Southgate nun in Form einer gesteigerten Erwartungshaltung zu spüren. Immerhin stehen nach dem Deutschland-Duell nur noch zwei weitere Partien an (gegen Italien und Ungarn) - bevor es für die Spieler endlich in den Urlaub geht.

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