Die vertrauten Horrorbilder: Im Halbfinale der Champions League gegen Amsterdam knallte Tottenhams Jan Vertonghen gegen den Kopf eines Mitspielers. Er wurde minutenlang behandelt, wechselte die blutbesudelte Kleidung, dann schickten ihn die Ärzte zurück in die Schlacht. Topfit! Oder? Referee Mateu Lahoz hatte Zweifel, er sprach Vertonghen an und ließ ihn nur widerstrebend aufs Feld. Sekunden später war klar, dass der Referee mehr Expertise besaß als die teuren Teamärzte der Spurs: Vertonghen wurde vom Platz geführt. Ende. Einen ähnlichen Vorgang gab es beim Bundesligaspiel in Mainz. Karim Onisiwo stieß Mitte der ersten Halbzeit mit dem Kopf eines Leipziger Verteidiger zusammen, traf für den FSV - konnte sich aber an sein Tor nicht mehr erinnern, wie er später sagte. Erst in der Halbzeitpause wurde er ausgewechselt.
Die Vorfälle am Dienstag und am Freitag sind Klassiker im Profigeschäft. Drumherum werden gern Girlanden gewunden und Bulletins wie das der Spurs am Tag darauf verschickt: Entwarnung! Keine Hirnerschütterung! Nur ein Kratzer! Das steht in Kontrast zu allem, was mitzuverfolgen war.
Der Fall Vertonghen und der Fall Onisiwo entlarven ein Kernproblem der weltpopulärsten Sportart: Ihre Ärzte sind oft mehr der Leistungsoptimierung als der Gesundheit verpflichtet. Ist ein Spieler benommen, ist eine ernsthafte Kopfverletzung zu befürchten. Sieht das sogar der Referee, nicht aber der Arzt, wird der Fehler auch dadurch nicht behoben, dass "unabhängige" Fachleute nachträglich Entwarnung geben. Weil in Fragen der Gesundheit nicht auf gut Glück spekuliert werden darf - und weil Schädeltraumata ein massives Risiko aufwerfen, das jeder Doktor kennt: Second-Impact-Syndrom. Der Zweitschlag-Effekt, wenn auf eine nicht abgeklungene Erschütterung eine weitere trifft. Dann, zeigen US-Studien, drohen oft bleibende Schäden.
Brisante Studien werden erstellt - und publiziert
In den USA wird den Kontaktsport-Risiken eine ganz andere Aufmerksamkeit zuteil. Brisante Studien werden erstellt - und sogar publiziert! Vom chronischen Schmerzmittelmissbrauch (verbreitet im Boxen, Football, Fußball), über Herzprobleme bis zu Nerven- und Demenzkrankheiten. Der US-Fußballverband erließ 2015 auf Elternproteste hin sogar Regeln, die Jugendlichen das Kopfballspiel teilweise verbieten. Aber dort drohen auch astronomische Schadenersatzklagen; und Fußball ist kein nationales Grundbedürfnis.
Anders in weiten Teilen Europas, offenbar deshalb werden hier alarmierende Studien unterdrückt und ausgeblendet, zu Schmerzmitteln wie zu Testosteron. Und für die Erforschung anderer beunruhigender Symptome, wie etwa der vielen Herzprobleme, ist kein Geld da - die Milliarden fließen halt in Transfers und Gehälter. Insofern gehören Neuigkeiten wie die von Iker Casillas zu den Tagesnachrichten: Spaniens Torwartheld erlitt Mittwoch im Training des FC Porto einen Herzinfarkt. Am Herz operiert wurde übrigens erst im Februar auch der deutsche Nationalspieler Sami Khedira. Gleich danach verschickte sein Klub Juventus Turin eine echte Frohbotschaft: Nur vier Wochen Pause!
So ist das im Spitzenfußball, der immer athletischer wird, aber Doping für ausgestorben erklärt. Der Affären wie die um den mutmaßlichen Doping-Doc Mark Bonar locker aussitzt, der bis 2014 Profis von vier Premier-Klubs betreut hatte. Und wo nichts auszusitzen ist, wird bagatellisiert. Dass der am Schädel verletzte Christoph Kramer im WM-Finale 2014 eine Viertelstunde nach dem Crash den Referee fragte, an welcher Partie er gerade teilnimmt, hat eher schon Anekdoten-Charakter wie der Fall Loris Karius: Liverpools Torwart erlitt im Champions-Finale 2018 eine Gehirnerschütterung; gleich danach bescherte er Real den Titelgewinn mit zwei absurden Patzern. Die Konsequenz? Keine Fachdebatte. Dafür Morddrohungen im Netz.
Die stete Tabuisierung des Themas erspart der Branche stark geschäftsschädigende Debatten wie die über eine Helmpflicht. Davon abgesehen, sind ja aus wirtschaftlicher Sicht Spätfolgen wie Depression, Alzheimer oder das im Fußball so gefürchtete Gehrig-Syndrom kein Problem: Bis dahin ist die Karriere längst vorbei.