Fußball in Japan:Vom Schwarzen Brett ins Abenteuerland

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Arbeit mit Weltmeistern: Gert Engels 2018 als Co-Trainer von Vissel Kobe, für den der Spanier Andres Iniesta (im Bild) und Lukas Podolski spielten.

(Foto: Naoki Nishimura/Aflosport/imago)

Der Rheinländer Gert Engels ist seit Jahrzehnten Trainer in Japan, jetzt coacht er ein starkes Frauenteam. Doch warum nur ist der Fußball im Land so herzzerreißend harmlos?

Von Thomas Hahn, Tokio

Fußball ist in Japan kein Spiel. So kam es dem Trainer Gert Engels von Anfang an vor, und so klingt es auch in der Sprache des Landes. "Sakka-o suru" sagen die Japaner, wörtlich übersetzt heißt das nicht "Fußball spielen", sondern "Fußball machen". Als wäre Fußball keine Beschäftigung, der man mit Freude nachgeht, sondern ein ernster Prozess zur Herstellung eines Produkts, das den Namen Fußball trägt. Gert Engels überzeugt das nicht, er ist schließlich Rheinländer, genauer gesagt Dürener, früherer U19-Nationalspieler und Reservist aus der Mönchengladbacher Meistermannschaft von 1976 und 1977. Fußball ist für ihn immer die Urform der Leidenschaft gewesen, er ist sogar der Meinung, dass Fußball ohne Spaß gar nicht richtig funktioniert. Er versucht, das den Japanern zu erklären. Schon lange.

Gert Engels, 63, ist ein Trainer jenseits des Establishments, keiner aus der Kartei für bewährte Abstiegsbekämpfer und Profiklubretter. In Deutschland kennen ihn viele wahrscheinlich gar nicht. Der Verein Deutscher Fußball-Botschafter hat ihn 2018 für sein gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet - aber das war im aufgeregten Fußball-Business eine Randnotiz. Er ist nicht einmal ein klassischer Weltenbummler mit Dutzenden internationalen Stationen, auch wenn er zwischen 2011 und 2013 Nationaltrainer von Mosambik in Afrika war und vor vier Jahren fast beim nordkoreanischen Spitzenklub SC 25. April gelandet wäre.

Gert Engels ist ein Zeitzeuge und Entwicklungshelfer des japanischen Fußballs. Die meiste Zeit seiner Trainerkarriere hat er im Inselstaat verbracht. Diverse Deutsche haben den Werdegang der J-League seit ihrer Gründung 1993 geprägt, darunter die 1990er-Weltmeister Pierre Littbarski und Guido Buchwald. Gert Engels ist einer von ihnen. Er ist mit der Zeit so richtig hineingewachsen in Japans Fußball. Er spricht die Sprache des Landes fließend, er hat hier seine Familie mit zwei mittlerweile erwachsenen Kindern gegründet. Und er mag die Auseinandersetzung mit dieser vertrauten Fremde, in der er ständig lernt und staunt und zu begreifen versucht. "Ich bin sehr gerne in Japan", sagt Engels.

Gerade steckt er im nächsten Abenteuer: Seit dieser Saison ist Engels Cheftrainer beim stark besetzten Frauen-Fußball-klub Inac Kobe Lionessa. Am Samstag geht die Liga los, nach monatelangem Aufschub wegen des Coronavirus. Im April und Mai, als wegen der Notstandserklärung alle daheimbleiben sollten, organisierte er Krafteinheiten via Videocall und Einzeltraining im Park. Er nutzte die Zeit. "Ich hatte die Möglichkeit, meine Spielerinnen besser kennenzulernen." Jetzt hat er genug gewartet. Er freut sich darauf, wieder als Chefcoach an der Linie zu stehen nach bewegten Zeiten in der zweiten Reihe.

Beim Erstligisten Vissel Kobe, bei dem damals neben dem spanischen Weltmeister Andres Iniesta auch noch der deutsche Weltmeister Lukas Podolski spielte, musste er im Oktober 2018 seinen Assistenztrainerjob abgeben, als der Klub Chefcoach Takayuki Yoshida feuerte. Er bekam einen neuen Co-Trainer-Vertrag beim Zweitligisten Kyoto Sanga, mit dem ihn eine alte Erfolgsgeschichte verbindet: 2001 coachte Engels Sanga als Chef zum Wiederaufstieg, 2002 zum Pokalsieg.

Lionessa also nun. Da wird er wieder viel lernen über seine Wahlheimat. Frauen und Japan ist ein Thema für sich, weil die Machogesellschaft noch lebendig ist in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt. Engels hat das Land immer mit wachem Blick betrachtet. Auf dem Fußballfeld hat er Japan beim Wachsen zusehen können.

"Mein Vater hat damals gesagt, in einem halben Jahr ist er wieder hier"

"Als ich hier angekommen bin, haben die Jungs noch Ohrfeigen auf dem Platz bekommen - ich dachte, was ist denn hier los?" 1990 war das. In Japan sah er damals die Chance, noch ein bisschen mit dem Fußball verbunden zu bleiben, bevor er sich - wie ursprünglich geplant - um eine Stelle als Lehrer oder Dozent in Deutschland bemühte. Ein Anschlag am Schwarzen Brett der Kölner Sportuniversität hatte ihn auf die Idee gebracht: Japanische Fußballschulen und Highschools suchten Trainer. "Mein Vater hat damals gesagt, in einem halben Jahr ist er wieder hier." Engels lächelt. Unterschätze niemals die Weltläufigkeit eines Rheinländers.

Das Japan der Neunzigerjahre war auf Ausländer kaum eingestellt, überall waren nur fremde Klänge und Schriftzeichen. Er spielte in Mito, Präfektur Ibaraki, für den örtlichen Viertligisten Aseno Sport Club, teilte sein Wissen, trainierte mit Kindern, die ihm seine ersten holprigen Japanisch-Versuche nicht übel nahmen. Im Frühjahr 1991 fing er als Team-Coach der Takigawa Daini Highschool an, musste bald darauf wieder zurück nach Köln - zum Trainerlehrgang des Deutschen Fußball-Bundes. In Köln lernte er Bunji Kimura kennen, der als Coach des Klubs Yokohama Flügels auf Spielersuche war. So kam er zu seinem nächsten Japan-Job: Die erste Saison der J-League 1993 erlebte er als B-Team-Coach bei Yokohama Flügels.

Engels hat seit damals ein paar schöne Cheftrainerposten gehabt, ist der Pokalsieger-Macher von Kyoto geworden und als Assistent bei Urawa Red Diamonds Meister, zwei Mal Pokalsieger sowie asiatischer Champions-League-Sieger; Guido Buchwald und der frühere Bundestrainer-Assistent Holger Osieck waren bei diesen Erfolgen seine Chefs. Doch Gert Engels erzählt lieber von Nachwuchsförderung, Mentalitäten, Spielsystemen - und damit von einem Fußball, der wie das Spiegelbild einer Gesellschaft wirkt. Heute gibt es keine Ohrfeigen mehr auf dem Platz. Ins japanische Trainerwesen sickert die Erkenntnis, dass Fleiß allein keinen guten Fußballer ausmacht: "Mittlerweile wissen sie, dass Fantasie und Kreativität wichtig sind", sagt Engels. Er erinnert sich: An einer seiner frühen Stationen sah er die Schulmannschaft jeden Tag zweieinhalb Stunden ohne Murren trainieren. Eines Tages sagte er: "Morgen ist frei." Die Jungs jubelten, und Engels sagte zu seinem Kollegen: "Wenn das die Reaktion ist, machen wir was falsch."

"Tanoshiku sakka-o yarimashoo" war einer der ersten Sätze, die Gert Engels sich auf Japanisch beibrachte: "Lasst uns mit Spaß Fußball spielen." Und er spürt, dass man sich mit dieser Lehre anfreundet.

In Klubs und Fußballschulen übt der Nachwuchs trotzdem weiterhin mit sehr vielen Wiederholungen die Grundtechniken. Daraus erwächst eine Masse an ballgewandten Jugendlichen, die man in Deutschlands Spaßgesellschaft wohl nie erreichen würde. Viele von ihnen gehen im verzweigten Leistungssystem der Highschool-Turniere verloren. "Zu viele Jungs sind auf zu viele Highschool-Mannschaften verteilt", sagt Engels. Eine Auswahl der Besten durch Spitzenklubs wie in Deutschland findet zunächst nicht statt. So verfeuert Japan Talente, und wer übrig bleibt, ist nach der Lehre des japanischen Tikitaka erzogen: elegante Flachpasserei zwischen den Strafräumen, schön anzusehen, aufwendig - und oft herzzerreißend harmlos.

Von Jugendteams bis hinauf in die Nationalmannschaft sieht man diese Spielweise. Wuchtige Stürmer und Abwehrungeheuer passen nicht zum Wesen der Kollektivfußballer. "In beiden Boxen haben sie immer noch ein Riesenproblem", sagt Engels mit Bedauern. Wenn die Japaner ihre Opferbereitschaft und Raffinesse verbinden könnten mit harter Geradlinigkeit - sie wären eine Fußballweltmacht. Aber Geradlinigkeit ist keine japanische Tugend. Engels kennt das. "Japaner sagen lieber ,Ein bisschen schwierig' statt ,Nein'."

Vielleicht mag er die Japaner gerade deshalb so gern. Weil sie es immer allen recht machen wollen, selbst ihren Gegnern. Außerdem ist er gegen Verallgemeinerungen. "Ich werde ja oft gefragt, wie tickt der Afrikaner, wie tickt der Japaner?" Er findet die Frage falsch: "Man muss jeden Menschen einzeln sehen." Auch in Japan. Wer weiß, was noch alles passiert. Vielleicht entdeckt Gert Engels hier irgendwann einen Zwei-Meter-Stürmer oder eine zupackende Meisterverteidigerin, die ganz laut "Nein" sagen zu den bremsenden Kräften der Harmoniesucht.

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