Fußball: Italien:Überholmanöver der schrägen Vögel

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Vom Keller an die Spitze: Luca Tonis AS Rom holt 15 Punkte auf und führt nach einer einmaligen Aufholjagd die Serie A vor Inter an.

Birgit Schönau

Es ist nur ein Punkt, ein einziges, winziges Pünktchen, aber es bedeutet das spannendste Saisonende seit vier Jahren. Und für Rom jetzt schon ein kleines bisschen Rausch. AS Rom 68, Inter Mailand 67: der vorläufige Höhepunkt einer langen Aufholjagd vom Tabellenkeller an die Spitze mit einem Überholmanöver, das kaum jemand für möglich gehalten hätte. Zu Beginn der Saison schien die Roma schon abgeschrieben zu sein. Verkaufsgerüchte und Abstiegsängste umrankten eine Mannschaft, die in ihrem deprimierend leeren Stadion Verzweiflungsfußball spielte. Ein Himmelfahrtskommando ohne Hoffnung auf ein Morgen, angeführt vom dauerverletzten Kapitän Francesco Totti, bedrängt von den Gläubigern, verlassen von den Fans.

Dann verabschiedete sich Trainer Luciano Spalletti nach St. Petersburg und es übernahm Claudio Ranieri. Da holte die Roma Punkt für Punkt. Und heute sagt der listig-lapidare Totti: "Mensch, ist das kalt hier oben." Oh wohliges Frösteln, auf dem Gipfel weht eine frische Frühlingsbrise, während bei Lazio eiskalt der Polarwind wütet: minus 29. Am Sonntag ist Derby und alles kann wieder vorbei sein. Nichts wäre für die haarscharf vor der Abstiegszone platzierten Laziali schöner, als den cugini (Cousins), den Marsch zum Titel zu vermasseln. Also, genießt den Tag, die Verwandtschaft kann man sich sowieso nicht aussuchen. Und ein Punkt ist ein Punkt.

Neun Jahre ist es her, dass die Roma jenen Titel gewann, dessen Namen ihr abergläubischer Anhang bis zum Saisonende am 16. Mai nicht aussprechen wird. Zweieinhalb Jahre sind vergangen, seit der Klub auf Platz eins stand, damals hieß der Präsident noch Franco Sensi. Heute wird die Roma von seiner Tochter Rosella geführt, einzige Frau an der Spitze eines börsennotierten europäischen Großklubs. Mit Mamma Maria, deren Kittelkleider ebenso legendär sind wie ihr grauer Haardutt, Tante Angela, den beiden jüngeren Schwestern und zwei weiteren Frauen im Management leitet Rosella Sensi die Roma, als wäre es eine römische Trattoria. Die Männer kümmern sich ums Grobe: Daniele Pradè, der auf dem Aventin-Hügel geboren wurde, ist Sportdirektor. Und Claudio Ranieri aus dem Schlachthofviertel Testaccio ist nach einer langen Karriere als ewiger Zweiter in Spanien, England und zuletzt bei Juventus Turin, endlich zu Hause.

Eher Ochsenschwanz

Ranieri, der neben dem alten Roma-Stadion aufwuchs, trainiert den Klub seiner Kindheit. Der Metzgerssohn hat seit 23 Wochen kein Spiel mehr verloren, das 2:1 am Sonntag gegen Atalanta Bergamo war der fünfte Sieg in Reihe. Und wenn er jetzt die Fans beschwört: "Kinder, hört nicht auf die Sirenen!", dann klingt Claudio Ranieri aber verdächtig gerührt.

"Wir haben selbst kaum geglaubt, dass wir das schaffen", hat der französische Abwehrspieler Philippe Mexès gestanden, ein rabiater Haudegen mit einer beeindruckenden Sammlung von Platzverweisen. "Jetzt stehen wir oben, weil wir zusammengehören wie die Finger einer Hand." Das klingt kitschig, ist aber ebenso treuherzig wie das Spiel einer Mannschaft, deren einziger Star immer noch der beim Torjubel Daumen lutschende Kapitän des Meisterteams von 2001 ist. Totti, wird in Rom gemunkelt, fungiert inzwischen auch noch als Assistenztrainer.

Am Sonntag soll er Ranieri geraten haben, die Leihgabe Luca Toni bis zur Pause auf der Bank zu lassen - ihm erschien angeblich der Kollege außer Form. Wenn es nicht stimmt, ist es gut erfunden, denn ohne Totti läuft nichts beim AS Rom. Spalletti wollte die Allmacht des Kapitäns nicht akzeptieren, der Pragmatiker Ranieri weiß sie einzusetzen. Man kann nicht an einem Spieler vorbei, der in Rom sogar die Verkehrsplanung bestimmt: Ein U-Bahn-Lüftungsschacht musste kürzlich umgelegt werden, weil er Tottis ersten Trainingsplatz zerstört hätte. Eine Bürgeriniative verhinderte im Namen des Kapitäns das Schlimmste.

Tottis Mannschaft spielt soliden Fußball mit Elementen anarchischer Phantasie. Eher Ochsenschwanz als Goldrisotto, eher durchwachsen als raffiniert, aber immer vollmundig und nie verdruckst. Eine Truppe schräger Vögel hat die Serie A aufgemischt und kürzlich auch den Rivalen Inter besiegt. Im Tor steht der Brasilianer Julio Sergio, einst Reserve der Reserve, inzwischen wohl der beste dritte Torwart der Welt. Die Abwehr um Mexès, Marco Cassetti, die Inter-Leihgabe Nicolas Burdisso und den Norweger John Riise zeichnet sich nicht durch Filigranarbeit aus, schießt aber, wenn nötig, auch Tore. Im Mittelfeld führt der Chilene David Pizarro Regie, ein instinktsicherer Spieler, der neben dem Stürmer Mirko Vucinic und Totti zur Feinpinsler-Fraktion gehört. Eher raubeinig kommen Simone Perrotta, Daniele De Rossi und Toni daher. Eine Mannschaft unterschiedlich begabter Individualisten, die dennoch wie aus einem Guss spielen kann - Ranieris Verdienst. Inzwischen gehört auch Toni zu den 15 Torschützen der Roma - "ein Pfeil in unserem Köcher", sagt Ranieri. Ob er in Rom bleiben kann, hängt indes von Tonis Gehaltsvorstellungen ab. Mit gut fünf Millionen Euro ist Totti der bestbezahlte Spieler. Vucinic, 26 Jahre, elf Saisontreffer, gibt sich mit weniger zufrieden.

Mourinho gegen Juve

Ranieri sowieso. Dass er nun den Elf-Millionen-Kollegen José Mourinho und dessen teures, technisch eindeutig überlegenes Star-Ensemble überholt hat, ist ihm wohl auch eine persönliche Genugtuung. 15 Punkte Vorsprung hatte Inter Ende November vor dem AS Rom, heute ist alles verspielt und man hält nur noch den kriselnden Lokalrivalen AC Mailand auf Abstand. Am Freitag trifft Mourinhos Team auf Juventus Turin - der zurzeit Sechste könnte die Meisterschaft entscheiden. Zumal Inter sich ganz auf das Halbfinale der Champions League gegen Barcelona konzentriert. Mit den besten Wünschen aus Rom.

© SZ vom 13.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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