Juventus Turin:42 dubiose Transfers

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Triumvirat unter Verdacht: Die Justiz ermittelt gegen Juves Präsident Andrea Agnelli, Vereinsikone Pavel Nedved und den ehemaligen Sportdirektor Fabio Paratici (von rechts). Ihnen wird vorgeworfen, die Geschäftsbücher für 2019, 2020 und 2021 geschönt zu haben - um insgesamt 282 Millionen Euro. (Foto: Matteo Bottanelli/Zuma Press/Imago)

Sportlich läuft es bei Juventus Turin miserabel - und die Justiz interessiert sich für mutmaßlich strafrelevante Tricksereien bei der Buchhaltung. Im ärgsten Fall droht dem Verein der nächste Zwangsabstieg.

Von Oliver Meiler, Rom

Es gab eine Zeit, da galt Andrea Agnelli als Wiederaufrichter von Juventus Turin, als Modernisierer des rückständigen Calcio, und das hört sich in diesen Tagen wie eine eigentümliche Deutung der Geschichte an. Den richtigen Namen trägt er ja, einen Namen wie eine dynastische Vollkaskoversicherung.

Die Agnellis, Eigentümer von Fiat, früher so etwas wie die ungekrönte Königsfamilie im postmonarchischen Italien, leisteten sich den Verein immer mit dem Selbstverständnis, dass ein Jahr ohne Meistertitel ein verlorenes Jahr sei - und so wirtschafteten sie auch. Kein Preis schien zu hoch zu sein für das Perpetuum der Glorie. Andrea, Sohn von Umberto Agnelli, wurde 2010 Präsident von Juventus. Man zog sich gerade aus dem Loch. Noch hallten Schande und Scham von Calciopoli nach, dem Skandal um den mächtigen Manager Luciano Moggi und unrühmliche Schiebereien. Er kostete den Klub die Aberkennung von zwei Meistertiteln und die Zwangsrelegation in die Serie B.

Was im Raum steht, sind keine Bagatellen für ein Unternehmen, das an der Börse notiert ist

Mit Andrea Agnelli an der Spitze gewann Juve bisher neun von zehn möglichen Meisterschaften, zweimal brachte man es dazu bis ins Finale der Champions League. Recht ansehnlich alles. In seine Ära fiel auch die Einweihung der neuen Arena, des Juventus Stadiums, und auch dieser Bau passte zur Renaissance.

Als Agnelli dann 2018 Cristiano Ronaldo nach Turin holte, sagte man sich, dass auch die Krone Europas zu greifen sei, musste ja - mit so einem Spieler. Doch nun, etwas mehr als drei Jahre nach dem Transfer des Jahrhunderts, zeigt sich, dass der vermeintliche Coup in Wahrheit der Anfang eines neuerlichen Absturzes gewesen sein könnte. Juve taucht wieder in allen falschen Schlagzeilen auf.

Sportlich sind die Turiner so schwach wie seit Menschengedenken nicht mehr, Platz sieben in der laufenden Saison, obschon der frühere Meistertrainer zurückgekommen ist: Massimiliano "Max" Allegri, wandelnder Inbegriff des Ergebnisfußballs. Die Konkurrenz aus Mailand, Neapel und Bergamo spielt nicht mehr nur den schöneren Fußball, sondern auch den ergiebigeren. Das ist aber gerade die kleinere Sorge.

Der vermeintliche Coup des Jahrhunderts könnte in Wahrheit der Anfang eines neuerlichen Absturzes gewesen sein: Cristiano Ronaldos Engagement in Turin ist schon beendet, seine Verpflichtung wirkt nach. (Foto: Federico Tardito/Insidefoto/Imago)

Ein Jahrzehnt nach der Machtübernahme von Agnelli droht Juve wegen mutmaßlich massiver Trickserei bei der Buchführung tatsächlich wieder ein Zwangsabstieg, wenigstens theoretisch. Neben der sportlichen Justiz könnte sich dann auch die ordentliche Strafgerichtsbarkeit eingehend für den Verein interessieren. Es geht schließlich um den Verdacht auf Bilanzfälschung, Ausstellung falscher Rechnungen, Kommunikation falscher Zahlen, und das sind keine Bagatellen für ein Unternehmen, das an der Börse notiert ist.

Die Justiz ermittelt gegen sieben amtierende und ehemalige Vereinsobere- und manager, unter ihnen Andrea Agnelli, 45 Jahre alt, die alte Vereinsikone Pavel Nedved und der ehemalige Sportdirektor Fabio Paratici, der neu in derselben Funktion bei Tottenham Hotspur arbeitet. Man wirft ihnen vor, die Geschäftsbücher für 2019, 2020 und 2021 geschönt zu haben - und zwar um insgesamt 282 Millionen Euro. Oder anders: Ohne diese unziemlichen Begradigungen, von denen gleich im Detail die Rede sein muss, wäre der Fehlbetrag in den Bilanzen jeweils viel höher ausgefallen, was unter Umständen wiederum den europäischen Fußballverband Uefa und die nationale FIGC auf den Plan gerufen hätte.

Plötzlich waren Namenlose Millionen wert - über Nacht und nur für die Bilanzen

Die Affäre, die nun Italiens Gazetten füllt, läuft unter dem leicht verwirrenden Übergriff Plusvalenza. Das ist das italienische Wort für Kapitalgewinn, wie es ihn etwa beim Transfer eines Spielers von einem Verein zum anderen geben kann. An Kapitalgewinn ist grundsätzlich nichts anrüchig, es verhält sich wie in vielen Geschäften: Wer gutes und rundherum umgarntes Personal in seiner Kartei stehen hat, kann aus dem Verkauf von dessen Diensten gutes Geld machen. Besonders groß ist die Gewinnmarge, wenn man die Fußballer selbst ausgebildet hat, in den eigenen Nachwuchsakademien. Mit einem schönen Transfererlös ist das Investment mehr als eingespielt.

Kurios ist aber, wenn Spieler, von denen selbst sehr gut informierte Fans noch nie etwas gehört haben und die in unteren Ligen erste unauffällige Erfahrungen machen, auf dem Transfermarkt plötzlich einen Wert von mehreren Millionen Euro haben sollen, manchmal sind es sogar zweistellige Millionenbeträge - viel mehr jedenfalls, als für sie intern über mehrere Vertragsjahre hinweg budgetiert gewesen war. Stehen sie dann mal als grandiose Verkäufe zu Buche, bessert sich die Finanzlage des Vereins auf einen Schlag um hohe Millionenbeträge. Der Aufsichtsbehörde des italienischen Fußballverbands, Covisoc, fiel in den vergangenen drei Jahren eine Reihe solcher dubioser Transferoperationen auf. Insgesamt waren es 62, an 42 davon war Juve beteiligt. Es beschäftigen sich damit auch die Mailänder Börsenaufsicht, die italienische Zentralbank und die Turiner Staatsanwaltschaft.

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Oft folgten die Geschäfte demselben Muster. Da kaufte sich Verein X die Rechte an einem unbekannten Spieler von Verein Y, und Verein Y verkaufte gleichzeitig die Rechte eines genauso unbekannten Spielers aus den eigenen, hinteren Reihen für den exakt gleichen Betrag an Verein X. Spiegeloperationen nennt man das. In Wahrheit floss kein Euro, der Veräußerungswert war jeweils rein fiktiv. Doch buchhalterisch, gedruckt auf geduldigem Papier, wirkten die Transaktionen Wunder. Oder anders: Das waren keine Kapitalgewinne, keine Plusvalenze - sie sahen nur so aus. Das sportliche Schicksal der involvierten Spieler schien dabei niemanden zu kümmern. In den meisten Fällen verschwanden sie mit Leihabkommen in der Serie C oder in der Serie D. Ihre Chancen, es doch noch zu schaffen, sind gering: Sie stehen ja jetzt mit surreal hohen Marktwerten in den Büchern.

"Ich war nur ein Spielstein", sagt Luigi Liguori. Er kickt jetzt in der Serie D

Einer von ihnen, der 23-jährige Stürmer Luigi Liguori aus Neapel, erzählte seine Geschichte vor ein paar Tagen der Zeitung La Repubblica. "Ich war nur ein Spielstein", sagte er. "Sie haben mich verbrannt." Liguori war Teil des Deals, den der SSC Neapel im Sommer 2020 beim Transfer des nigerianischen Mittelstürmers Victor Osimhen von OSC Lille ausgehandelt hatte.

Osimhen soll die Neapolitaner 71 Millionen Euro gekostet haben. 20 Millionen davon stammten vom Verkauf des dritten Torwarts Neapels, Orestis Karnezis, dessen Marktwert trotz seiner damals 36 Jahre noch immer auf fünf Millionen angelegt war. Liguori, der für Fermana in der dritten italienischen Liga spielte, wurde mal kurz auf vier Millionen geschätzt, ebenso wie ein Kamerad aus gemeinsamen Zeiten im Nachwuchs; ein weiterer war gar sieben Millionen wert. "In Lille waren wir nie", sagte Liguori, nicht einmal für die Unterzeichnung der Verträge. Liguori spielt nun für Ercolense in der Serie D.

Bei Juve soll es also 42 solche Geschäfte gegeben haben. Domani hat sie alle nachgezeichnet, eine Kaskade zumeist unbekannter Namen auf zwei Zeitungsseiten. Die Gazzetta dello Sport glaubt außerdem zu wissen, dass die Ermittler einen geheim gehaltenen Zusatzvertrag mit Cristiano Ronaldo prüfen, einen, der dem portugiesischen Superstar noch mehr Geld zugewiesen haben soll, als bekannt war - mehr als die brutto rund 80 Millionen Euro im Jahr. CR7 brachte natürlich auch viel Geld ein, doch das Supersalär und die Superboni drängten die Turiner wohl erst dazu, Scheingeschäfte zu tätigen, um die Bücher trotzdem einigermaßen in Ordnung zu bringen.

"Weil es um uns geht": Giorgio Chiellini findet, die Skandalgeschichte um seinen Verein Juventus Turin werde gehypt. (Foto: Federico Tardito /Insidefoto/imago)

Nun ist dieser Trick mit den aufgepumpten Marktwerten kein neuer, und er ist auch kein allein italienischer. Doch der italienischen Presse gilt er als "italienisches Original", das im Ausland kopiert wurde. Begonnen damit haben Milan und Inter Anfang der Nullerjahre. Die Vereine standen vor der Sportjustiz, weil sie in einem Strudel von Operationen Spieler austauschten, um die Buchhaltung aufzumotzen. Sie wurden aber entlastet mit der Begründung, es gebe keine objektiven Kriterien für den Marktwert eines Spielers. Vor einigen Jahren dann wurden zum ersten Mal zwei Vereine bestraft, weil sie das Muster imitiert hatten: Gegen Chievo und Cesena gab es belastendes Material aus abgehörten Telefongesprächen. Chievo, das einstige Märchenteam aus einem Stadtviertel Veronas, ist unterdessen aus dem Profibetrieb verschwunden, der Verein hat nur noch eine Jugendabteilung. Cesena spielt in der Serie C.

Giorgio Chiellini bereitet sich schon mal vor, für die Zeit danach

Juventus Turin ist eine andere Hausnummer. Ihr Verteidiger Giorgio Chiellini findet, die Skandalgeschichte werde gehypt, "weil es um uns geht". Chiellini, 37 Jahre alt, hat Ökonomie studiert, abgeschlossen hat er mit einer Arbeit über "Das Businessmodell des FC Juventus im internationalen Vergleich". Nach seiner sportlichen Pensionierung wird er dann wohl im Management von Juve arbeiten, manchmal führt er sich jetzt schon als Dirigente auf.

Als bekannt wurde, dass die Fahnder die Büros des Vereins durchsucht hatten, stürzte der Börsenkurs von Juventus ab: minus 17 Prozent. Geplant war gerade eine Kapitalerhöhung von 400 Millionen Euro. Nun fragt man sich, ob außer den Agnellis und ihrer stets üppig gefüllten Kasse Exor, die 64 Prozent des Kapitals von Juventus verantworten, auch andere Großaktionäre noch dabei sein werden bei der Aufstockung der Finanzen. Andrea Agnelli, so hört man, ist auch in der Familie schon lange nicht mehr unumstritten. Seine prominente Rolle beim eher linkischen Versuch, eine europäische Superliga zu gründen, missfiel auch vielen Juventini. Trüge er nicht diesen Namen mit dem schier unzerstörbaren Klang, so viel lässt sich wohl behaupten, wäre er schon lange nicht mehr Präsident des altehrwürdigen Vereins.

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