Fußball: Italien erneuert sich:Michelangelo übernimmt

Ein Ästhet als Reformer: Roberto Baggio, der neue Sportdirektor des Verbandes, soll das Wehklagen im italienischen Fußball beenden - doch um die Probleme des Calcio zu beheben, bräuchte es beinahe eine Revolution.

Birgit Schönau

Es ist eine der letzten Utopien des Fußballs, zu glauben, dass ein Genie alle anderen zu Künstlern machen kann. Oft, sehr oft ist diese Utopie gescheitert, zuletzt mit Diego Armando Maradona als Nationaltrainer von Argentinien. Einmal wurde sie verwirklicht, mit dem genialen Kunsthandwerker Franz Beckenbauer, der auch als Trainer Weltmeister wurde.

FBL-ITA-BAGGIO

Retter mit modischer Sonnenbrille - Roberto Baggio ist als Reformer im italienischen Fußball gefragt.

(Foto: AFP)

In Italien wird das Genie als genio italico in diesen dunklen Zeiten besonders oft beschworen, wenn das Volk sich darauf zurückbesinnen mag, dass es eigentlich aus Seefahrern und Heiligen besteht, vor allem aber aus Dichtern und Künstlern. Nur im Fußball hatte das italienische Genie bislang nichts zu suchen, es galt als verdächtig, ja subversiv. Niemand hat das stärker erfahren müssen als der große Artist und Ästhet Roberto Baggio, der von Tifosi aller Couleur bis heute verehrt wird, wegen seines anarchischen Temperaments aber an den Feldmarschallen des Calcio scheiterte.

Mozart soll's richten

Jetzt ist Baggio zurück. Die offizielle Beschreibung für seinen Posten beim Verband Federcalcio lautet: Direttore del settore tecnico. In Wahrheit aber soll der Mann mit dem Mozartzopf dafür sorgen, dass endlich wieder gespielt wird. Baggio als Retter. "Er wird den Calcio wiederbeleben", glaubt die Gazzetta. Übrigens arbeitet der Sanitäter Baggio ohne Honorar. Ihm zur Seite stehen Gianni Rivera, früher Staats sekretär im Verteidigungsministerium und ganz früher Weltfußballer und "Golden Boy" beim AC Mailand. Rivera, 67, übernimmt die Abteilung Schulsport. Die Jugendteams sollen auf Arrigo Sacchi, 64, hören. Baggio senkt in diesem Trio auf jeden Fall das Durchschnittsalter, er ist 43.

Vor sechs Jahren hatte er aufgehört zu spielen und sich der Familie, Buddha und den Jagdgründen in Argentiniens Pampa gewidmet. Diesen Sommer machte er den Trainerschein, der erste Schritt zurück in den Fußball. "Es gibt genügend Talent in Italien", sagt Baggio nun, "man muss es nur fliegen lassen." In seine neue Aufgabe gehe er "mit Demut und Wissbegierde, ich muss ja alles noch lernen". Baggios Rückkehr wird allgemein als Zeichen der Revolution gefeiert. Seit dem Desaster bei der WM verausgabt sich der Calcio in der Disziplin des Wundenleckens, allenthalben gibt es ein großes Selbstanklagen und Geißeln, das wahrscheinlich spätestens im September mit einem brillanten Sieg der Squadra Azzurra in der EM- Qualifikation gegen Färöer ein abruptes Ende finden wird.

Noch aber füllen täglich neue Horrorstatistiken das Sommerloch: Italiens Serie A hat die ältesten Fußballer nach Zypern (sieben Monate älter als die Spanier!), die wenigsten Nachwuchsspieler in den Vereinen (nur die Hälfte der Bundesliga!) und immer noch viel zu viele Ausländer (42 Prozent). Derweil verkauft Inter Mailand seinen einzigen italienischen Spieler, das Talent Mario Balotelli, ungerührt an Manchester City. Wozu Italiener im Team, wenn man auch ohne sie die Champions League gewinnen kann? Für Balotelli kommt der 18-Jährige Brasilianer Coutinho, den Inter für zwei Jahre in Rio de Janeiro geparkt hatte. Nicht gerade ein Riesendeal, dennoch lächelt Coutinho seit Wochen als "neues Gesicht des Sommers" von den Titelseiten. Es gibt ja kein anderes.

Chance für Ballotelli

Wo früher Schlagzeilen über Millionentransfers den Italienern ihren Ferienmonat August versüßten, badet man heute in Blut, Schweiß und Tränen. Die Kommentarspalten der Expertenblätter lesen sich wie Protokolle von Männer-Selbsthilfegruppen. Als wenn das noch nicht ausreicht, droht die Spieler-Gewerkschaft mit einem Streik am ersten Spieltag - für den Fall, dass die Weihnachts- ferien nicht verlängert werden. Dazu passend kommt prompt die Breitseite aus dem Vatikan: Die geplanten Erstligaspiele am Sonntagmittag bedrohten die "Einheit der italienischen Familie". Was man sich eben so vorstellt hinter sehr, sehr hohen Kirchenstaatsmauern, wo sanftmütige Nonnen noch das Sonntagsessen kochen, anstatt Totti zu gucken.

Fußball: Italien erneuert sich: Als Spieler war Baggio ein Freigeist, ein Kreativkönner erster Klasse - hier eines seiner WM-Tore im Spiel gegen Österreich 1998.

Als Spieler war Baggio ein Freigeist, ein Kreativkönner erster Klasse - hier eines seiner WM-Tore im Spiel gegen Österreich 1998.

(Foto: AP)

Baggio kommt gerade richtig, "um uns alle an das Wunderbare zu erinnern, das geschehen ist und das wir schon fast vergessen haben", philosophiert das Existentialistenblatt Corriere della Sera. Wie um zu sagen: Jetzt wühlen wir im Dreck, Leute, aber wir waren alle mal Baggio. Und Leonardo. Und Michelangelo. Sowie Dante und Vergil.

Stille Revolution

Aber Roberto Baggio will kein Mahnmal sein. Er will Ideen einbringen, er will entscheiden, er will etwas ändern. Symbolfiguren verkörpern noch keine Utopie, die Azzurri haben jetzt eine ganze Galerie davon, neben Baggio und Rivera auch noch den Rekordtorjäger Gigi Riva. Die Revolution aber wird im Stillen geschehen, mit Reformen statt Barrikaden, ausgeführt vom neuen Nationaltrainer Cesare Prandelli. Der will den Jungen wie Balotelli eine Chance geben und den Eingebürgerten wie dem Brasilianer Amauri von Juventus Turin.

Prandelli, 53, will schon zum Einstand am 10. August in London gegen die Elfenbeinküste eine runderneuerte Squadra Azzurra auftreten lassen. Denn in seiner Zeit als Ballarbeiter im Mittelfeld von Juventus Turin hat Prandelli einst gelernt: Wenn es nicht genügend Talente gibt, dann muss man sie fliegen lassen.

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