Fußball in Belgien:Mit der Effizienz einer Eidechse

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Wie, noch nie von Saint-Gilles gehört? Der Däne Casper Nielsen (links) feiert am Sonntag seinen Treffer gegen den RSC Anderlecht - es sollte das Tor des Tages sein. (Foto: Peter De Voech/Panoramic/imago)

Union Royale Saint-Gilloise krempelt den belgischen Fußball um. Der Aufsteiger aus der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles hängt die Großklubs FC Brügge und RSC Anderlecht ab - mit Spielern, die andernorts keiner wollte, und mit dem Geld eines sehr nervenstarken Investors.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Wie ein Märchenschloss des Fußballs wirkt das leere Stade Joseph Marien, wenn man sich vom angrenzenden Duden Park her nähert. Durch Büsche und Bäume hindurch erkennt man das in rotem Ziegel aufgemauerte Vereinsgebäude, das die Haupttribüne mit dem blauen Dach trägt. Man sieht gelbe und blaue Sitzschalen aufblitzen, die in Erdwälle eingelassen sind. Und mittendrin das satte Grün. Da wartet bestimmt eine Prinzessin darauf, wachgeküsst zu werden, denkt man auf den ersten Blick. Allein, die Prinzessin ist schon wachgeküsst - sogar von zwei Männern, einem englischen Pokerspieler namens Tony Bloom und dem deutsch-türkischen Stürmer Deniz Undav, den in der Bundesliga niemand haben wollte.

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Die Royale Union Saint-Gilloise als Tabellenführerin der belgischen Liga: Ansichtssache, ob man das für ein Märchen hält oder nur für ein Beispiel, wie internationale Investoren die Fußballwelt regieren. In jedem Fall schreibt der Verein, der in der Brüsseler Gemeinde Saint-Gilles sein Zuhause hat, gerade eine der erstaunlichsten Geschichten des europäischen Vereinsfußballs. Er war Serienmeister in den 1930er-Jahren, danach in der Versenkung verschwunden, erst im Sommer 2021 wieder in die erste Liga aufgestiegen. Nun fliegen dem Verein die Herzen zu, und Scouts aus den großen Ligen Europas suchen im denkmalgeschützten Stade Joseph Marien nach Verstärkungen.

Aufsteiger Union führt die Tabelle mit großem Abstand an, doch die Meisterschaft ist weit weg

An diesem Sonntag feierte die Mannschaft ihren größten Sieg, 1:0 im Brüsseler Derby gegen den RSC Anderlecht. Die 5000 Fans im wegen Corona nur zur Hälfte gefüllten Stade Joseph Marien spielten schier verrückt. Zur Krönung fehlte nur ein Treffer von Deniz Undav, 25, der vor zwei Jahren noch beim Drittligisten SV Meppen spielte und in Brüssel zum Helden aufstieg. Als einziger Spieler ist er an der Stadionwand als Werbeträger des Vereins zu sehen. Gegen Anderlecht verbrauchte er alle seine Kraft, um gemeinsam mit seinen Teamkollegen den frühen Vorsprung durch ein Freistoßtor des Dänen Casper Nielsen zu verteidigen. Es gibt kein Team in der Liga, das mehr rennt als jenes aus Saint-Gilles.

Mit großem Vorsprung auf Titelverteidiger FC Brügge führt die Mannschaft die Tabelle an, Anderlecht hat 15 Punkte Rückstand. Die beiden Gemeinden der Hauptstadt liegen in unmittelbarer Nachbarschaft, aber fußballerisch trennten sie bis vor Kurzem Galaxien. Anderlecht, trainiert vom belgischen Idol Vincent Kompany, kriselte in den vergangenen Jahren sportlich wie finanziell, doch gilt die Mannschaft mit ihren 34 Meistertiteln immer noch als der FC Bayern des belgischen Fußballs. Und nun ist Saint-Gilles, vergleichsweise nicht mal 1860 München, vorbeigezogen.

Das wäre nicht möglich ohne das Geld von Investor Tony Bloom, 51. Als professioneller Zocker kam er zu Geld, mathematisch hochbegabt und derart kaltblütig, dass ihm Rivalen den Namen "Lizard" verpassten, die Eidechse. Als er ein Unternehmen gründete, das Sportwetter berät, nannte er es deshalb "Starlizard". Mit dem vielen Geld, das er damit verdiente, verhalf er seinem Heimatverein Brighton & Hove zum Aufstieg in die Premier League. Weil er aber eine Meisterschaft gewinnen will und in England keine Chance sieht, suchte er ein weiteres Investment. Er fand es 2018 in Saint-Gilles. Brüssel ist von London aus gut zu erreichen, Saint-Gilles hat große Tradition und treue Fans. Und die belgische Liga ist offener für Investoren als etwa die deutsche.

Beim Drittligisten Meppen nicht mehr benötigt, in Brüssel zum Helden aufgestiegen: Stürmer Deniz Unav, links gegen Anderlechts Sergio Gomez Martin, hat in dieser Saison bereits 18 Treffer für die Union Royale erzielt. (Foto: Philippe Crochet/Panoramic/imago)

Deniz Undav, vor 25 Jahren in Achim bei Bremen geboren, fand aus der Datenbank von "Starlizard" den Weg nach Saint-Gilles. Blooms Unternehmen sammelt nicht nur Statistisches über alle Spieler in den europäischen Ligen, sondern auch alle verfügbaren Informationen darüber hinaus. Und so ergab sich offenbar das Bild eines spielintelligenten, technisch versierten Stürmers mit Gemeinsinn. In der Jugend von Werder Bremen hatte man ihn mit seinen 1,79 Meter für zu klein befunden, beim Zweitligisten Eintracht Braunschweig konnte er sich nicht durchsetzen. Mit 17 Treffern leistete er seinen Beitrag zum Aufstieg Saint-Gilles, 18 hat er in der ersten bislang geschossen. Alle Wege scheinen ihm nun offenzustehen.

Schalke, Köln, Wolfsburg, Gladbach? Mit allen möglichen Klubs wurde Undav in Verbindung gebracht, nachdem vergangene Woche bekannt geworden war, er werde Belgien verlassen. Er sei ein Spielertyp wie Karim Benzema, der französische Torjäger von Real Madrid, sagt Undav von sich selbst, das zeugt von Selbstvertrauen. Belgische Kommentatoren rieten, er solle keinesfalls in die Premier League wechseln, dort werde er untergehen. Aber genau das scheint sich nun zu bestätigen: Angeblich bleibt Deniz Undav dem Imperium von Tony Bloom erhalten und wechselt zu Brighton & Hove.

Offiziell hat Saint-Gilles den drittkleinsten Etat der Liga, inoffiziell fließt sehr viel Geld

Er wolle das Märchen in Brüssel zu Ende schreiben, sagt Undav, deshalb wird er erst im Sommer wechseln. Der Meistertitel liegt trotz der Tabellenführung in weiter Ferne, denn er wird am Ende in einem komplizierten Playoff-System vergeben. Unabhängig davon wollen Investor Bloom und sein Geschäftspartner Alex Muzio, der als Präsident fungiert, den Verein weiter modernisieren.

Offiziell hat Saint-Gilles den drittkleinsten Etat der Liga, jedoch fließt über Transfers und Gehälter hinaus sehr viel Geld. Außerhalb Brüssels wurde ein Trainingsgelände gebaut, in zwei Jahren soll ein neues Stadion stehen, das mehr als nur 10 000 Zuschauer fasst. Und die Algorithmen von "Starlizard" werden in ganz Europa einen neuen Undav suchen. Der Vorgänger des amtierenden Trainers Felice Mazzu hatte darauf beharrt, ein Team aus belgischen Talenten zu formen. Tags darauf war er entlassen.

So viel kalte Effizienz mag einschüchternd wirken. In Belgien jedoch, wo kaum ein Klub ohne Großinvestor konkurrenzfähig ist, wird sie als erfrischend wahrgenommen. Die Liga steht unter dem Schock des Skandals aus dem Jahr 2018, mehr als 50 Beteiligte sollen vor Gericht, wie gerade bekannt wurde. Es geht um Spielmanipulation, Geldwäsche, Korruption. Auch früheres Personal des RSC Anderlecht ist verwickelt in die Affäre. Offenbar hat man den belgischen Milliardär Marc Coucke (Omega Pharma) übers Ohr gehauen, als er 2017 den maroden Verein kaufte. Bei so viel schlechten Nachrichten will man ab und zu gern an Märchen glauben.

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