Fußball in Russland:19270 Kilometer für 90 Minuten

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Die im Westen Russlands gelegenen Erstligisten fluchen über die Reisen zum Aufsteiger Lutsch-Energija Wladiwostok.

Frank Nienhuysen

Der Empfang ist behaglich, ohne Frage. Kurz geschoren und schön gepflegt präsentiert der Verein seinen Rasen, auf der Tribüne reihen sich neue Plastiksitze in Blau und Gelb, und über dem flachen Stadionrand heben sich sanft die umliegenden Hügel ab. Zugegeben, auf ihnen stehen ziemlich viele hässlich betonierte Hochhäuser und auch ein paar Strom- und Sendemasten, aber dafür liegt das Areal von Lutsch-Energija Wladiwostok auch äußerst zentral. Bis zum Bahnhof sind es nur ein paar hundert Meter, was die Anfahrt für die Fans außerordentlich bequem macht. Sofern es die eigenen sind.

Die anderen dürften fluchen. "Die Reisen dorthin sind der reinste Horror", sagt Alexander Koreschkow, der Trainer von Sokol Saratow, aber der hat es nun wenigstens hinter sich. Der bisherige Fußball-Zweitligist Lutsch-Energija steigt nämlich in die russische Premier League auf. Nun müssen sich andere Vereine in die Ferne Asiens plagen. Wladiwostok liegt im äußersten Südosten Russlands, direkt am Japanischen Meer; ein paar Dutzend Kilometer sind es bloß von dort bis zur nordkoreanischen Grenze, aber leider eben mehr als 9000 bis nach Moskau, bei einem Zeitunterschied von sieben Stunden. Auswärtsspiel ist da ein verharmlosender Begriff.

"Wladiwostok ist nun einmal ein Teil von Russland"

Zwar muss niemand eine Woche lang mit der Transsibirischen Eisenbahn zum Dynamo-Stadion fahren, aber auch die einfache Flugreise von Moskau dauert immer noch knapp neun Stunden. Die längste Reise wird allerdings der Mannschaft von Zenit St.Petersburg bevorstehen. 9635 Kilometer Hinflug, 90 Minuten Fußball spielen, 9635 Kilometer Rückflug. Das lohnt sich eigentlich nur bei einem Sieg.

Natürlich hatte Lutsch-Energija auch in der Zweiten Liga Gegner, in der russischen Premier League aber tummeln sich vor allem die vielen Klubs aus den Zentren des europäischen Westens: ZSKA, Lokomotive, Spartak, FK, Torpedo, Dynamo - sechs Klubs kommen allein aus Moskau. Selbst die Spieler aus Tomsk, das deutlich jenseits des Urals in Sibirien liegt, haben für ihr Auswärtsspiel in Wladiwostok noch etwa 5000 Kilometer vor sich. "Es gibt ein Problem", räumt Georgij Cherdanzew ein, der Sprecher der Premier League, "aber Wladiwostok ist nun einmal ein Teil von Russland."

Noch schlechter dran als die Gegner von Lutsch-Energija sind die Spieler von Lutsch-Energija. "Es tut mir sehr leid für sie, aber sie fliegen wirklich deutlich mehr", sagt Ilja Kusinkin, der Sprecher von Dynamo Moskau. Mehr als 200000 Kilometer müssen sie im Verlauf der nächsten Saison zurücklegen, da könnten sie die Ankündigung ihres Gebietsgouverneurs Sergej Darkin fast schon als Drohung interpretieren. Darkin verkündete als Saisonziel einen der ersten fünf Plätze - und damit die Qualifikation für den Uefa-Cup, der im Wesentlichen etwa 10000 Kilometer weiter westlich ausgetragen wird.

Wladiwostok oder Nordkaukasus?

Eine logistische Herausforderung ist der Aufstieg von Lutsch-Energija Wladiwostok auch für den russischen Fußball-Verband. Der denkt nun darüber nach, dem Neuling aus Fernost gewissermaßen entgegenzukommen und die Unbill weiter Reisen wenigstens zu beschränken. Demnach könnte Wladiwostok zu jeweils zwei Auswärtsspielen nacheinander in Europa antreten.

Das würde die Lage entspannen, nicht aber das Team vor einem Auswärtsspiel in einer Region bewahren, in die es andere Klubs womöglich ebenso wenig zieht wie ans Japanische Meer. Der zweite Aufsteiger in die russische Premier League ist nämlich Spartak Naltschik. Da fliegt man zwar schneller hin, aber nicht unbedingt lieber. Naltschik liegt im Nordkaukasus, und Mitte Oktober erst geriet die Stadt in die Weltnachrichten, als bei einem Terrorüberfall mehr als hundert Menschen getötet wurden.

Der Verein Kuban Krasnodar weigerte sich daraufhin, in Naltschik anzutreten und nahm stattdessen eine Strafe von 35000 Dollar in Kauf sowie eine 0:3-Wertung für das abgesagte Spiel. "Ich glaube nicht, dass man in einer Stadt Fußball spielen kann, in der Panzer durch die Straßen fahren", sagte der Klubmanager. Inzwischen ist der Rauch in Naltschik verzogen, der Verein will nun den Ruf der Region verbessern. Und wenn es Neulinge in der Premier League gibt, dann müssen auch Absteiger die Liga verlassen. Einer davon ist Terek Grosny, der Klub aus Tschetscheniens zerstörter Hauptstadt.

© SZ vom 23.11.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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