Fußball in L'Aquilla:Das Stadion blieb stehen

Der Fußball des Fünftligisten L'Aquilla Calcio verspricht inmitten der vom Erdbeben zerstörten Abruzzenstadt ein bisschen Normalität.

Birgit Schönau

Der Schnee überzieht L'Aquilas Ruinen mit einer Pulverschicht, verwischt die harten Konturen des Verfalls, bis sogar die Trümmerhaufen malerisch erscheinen. Acht Monate sind vergangen, seitdem ein Erdbeben am 6. April die Stadt in den Abruzzen zerstörte, hektisch gehen auch in der Weihnachtswoche die Aufbauarbeiten voran. Die Zelte für die Obdachlosen wurden rechtzeitig vor dem Wintereinbruch abgetragen - immerhin ist L'Aquila die kälteste Stadt Italiens. Das Leben geht in Holzhäusern weiter, viele wohnen darin, andere arbeiten. Es gibt Frisörsalons in Holzhütten, Kaffeebars, Versicherungsbüros.

Fußball in L'Aquilla: Kaum ein Haus blieb bei dem Erdbeben in L'Aquila heil. Nur das Stadion blieb stehen.

Kaum ein Haus blieb bei dem Erdbeben in L'Aquila heil. Nur das Stadion blieb stehen.

(Foto: Foto: AFP)

Die Holzhütten haben sich wie ein Kranz um die Altstadt gelegt, aber das Centro Storico selbst, der Stolz der Abruzzen mit seinen Kuppeln und Türmen und wuchtigen Palazzi ist immer noch eine Geisterstadt. Unbewohnbar und bis auf wenige Straßen nicht zu betreten: Einsturzgefahr. Immerhin haben kurz vor Weihnachten die Sorelle Nurzia ihr traditionsreiches Café am Dom wieder eröffnet, wo Torrone serviert wird, der klassische Weihnachtskuchen aus Mandeln und Honig.

Die Öffnung des Cafés Nurzia wird als sichtbares Zeichen für den Neuanfang in L'Aquila gefeiert, als erster Schritt in die Normalität: Man kann sich jetzt wieder treffen, wo man sich schon vorher traf. Ansonsten geht das nur im Stadion. Ringsumher stürzte die Welt ein, doch das Stadion blieb stehen. Und während L'Aquila zur Geisterstadt verfiel, wurde mit einer kleinen Unterbrechung weiter Fußball gespielt. Nur der Fußball garantierte inmitten der Zerstörung so etwas wie Normalität, und deshalb ist er für viele ein Symbol dafür, dass es irgendwie immer weitergeht. Auch nach einem Erdbeben mit 308 Toten und 1600 Verletzten.

Fußballstadion als Ort zum Treffen "Es klingt wie ein schlechter Witz", sagt Fabio Aureli, "ausgerechnet das Stadion ist der einzige Ort in L'Aquila, wo sich am Sonntag alle begegnen können. Die schönen alten Kirchen sind noch geschlossen, das Stadion aber ist offen. Dabei war es schon vor dem Erdbeben so baufällig, dass es eigentlich geschlossen gehörte." Aureli, 27, hat wasserblaue Augen, eine Glatze, und zur Begrüßung sagt er stolz: "Ich bin der jüngste Generaldirektor im italienischen Fußball."

Generaldirektor bei L'Aquila Calcio, fünfte Liga, Serie D, die sogenannte "Nettoliga", in der Amateure spielen, die aber um dreißig-, vierzigtausend Euro im Jahr verdienen - netto. Die Serie D ist eine getarnte Profiliga, in die L'Aquila Calcio nur hineingeraten ist, weil der Fußballverband ein Einsehen hatte. Nach dem Erdbeben in der Osterwoche fehlten noch zwei Spieltage. L'Aquila stand oben in der Tabelle der Serie E, der Aufstieg war zum Greifen nah vor dem 6.April, vielleicht hätte man Ostern feiern können. Und dann brach alles zusammen, am Montagmorgen um halb vier.

Der Hauptort der Region Abruzzen war ein Trümmerfeld, das Leben, das ihn erfüllt hatte, ausgelöscht. Es gab keine Wohnungen mehr, keine Arbeit, keine Geschäfte - keinen Fußball. Der Verband beendete die Saison von L'Aquila Calcio vorzeitig und hievte den Klub in die nächsthöhere Liga. Die Spieler waren obdachlos wie fast alle. Und wie fast alle schliefen sie wochenlang im Auto, aus Angst vor weiteren Beben. "Jedes Mal, wenn die Erde wieder zitterte, war es ein Schlag in die Magenkuhle", sagt Fabio Aureli. Die Erde zittert in L'Aquila bis heute. Hast du es heute Nacht gemerkt?, fragen sich die Leute morgens zur Begrüßung. In L'Aquila wird über das Ruckeln der ewig unruhigen Erde geredet wie anderswo über das Wetter.

In der Geschäftsstelle von L'Aquila Calcio, einem überheizten Kabuff im Erdgeschoss des verschneiten Stadions, setzt Aureli sich die Mütze auf und zieht die dicke Jacke an. Er will zum Training, hundert Kilometer weiter an die Küste, nach Tortoreto. Dort sind die meisten Spieler in Hotels untergebracht. Auf Staatskosten. Von 22.000 Obdachlosen aus L'Aquila leben heute noch 13.200 in Hotels an der Adria. 8000 sind bei Angehörigen untergekommen. 4800 haben Neubauten am Stadtrand bezogen, die Regierungschef Silvio Berlusconi an seinem 73. Geburtstag im September eingeweiht hat. Die Aquilaner nennen diese Neubauten "Berlusconis Häuser", als habe der Ministerpräsident sie persönlich gebaut.

Der Fußballpatron kümmert sich um den Wiederaufbau Zum Training fährt heute auch Giuseppe Taffo, einer der Besitzer von L'Aquila Calcio. Ein zurückhaltender Mittfünfziger mit beigem Kaschmirpullover und roter Lesebrille, der in Richtung Küste rast, als gäbe es kein Morgen. Er schnallt sich noch nicht mal an. Was soll schon passieren? Es ist ja alles schon passiert.

Taffo braust unter dem Gran Sasso hindurch, mit seinen 2900 Metern der höchste Gipfel des Apennin, und dann durch die nebelverhangene Gebirgslandschaft. Mit Aureli, der auf der Rückbank sitzt, geht er die Zugänge für die drei Mannschaften von L'Aquila Calcio durch. Bei jedem Namen fragt Taffo interessiert: "90er? 92er? 93er?" Das sind die Jahrgänge. Und Aureli gibt seinen Kommentar. Zur ersten Mannschaft sollte eigentlich ein Brasilianer stoßen, der Transfer platzte in letzter Minute.

Das hört sich an wie in der großen Fußballwelt, ist aber Serie D, das Sprungbrett für ehrgeizige Provinzunternehmer wie Taffo. Er macht in Marmor und hat ein Bestattungsunternehmen mit einer Filiale in Rom. Beiläufig erzählt er, dass er das Staatsbegräbnis für die Erdbebenopfer ausgerichtet habe. Ausführlich berichtet er, dass seine Firma an den Wiederaufbauarbeiten beteiligt ist. Marmortreppen und Fußböden für die neuen Häuser, ein fetter Auftrag. Auch der Unternehmer Giuseppe Taffo ist ein gutes Beispiel dafür, wie es nach dem Desaster weitergehen kann, jedenfalls für manche.

Knapp vor der Küste reißt der Himmel auf. Am Horizont sieht man die Adria glitzern, hellblau liegt das Meer da, so still und bewegungslos, als gehörten Schnee und Eiswind und Nebel zu einer anderen Welt. Statt schroffer Felsen gibt es hier Olivenhaine, durch die sich der Weg zum Trainingsplatz schlängelt, einem Platz mit grünem Rasen sogar im Winter. L'Aquila Calcio trainiert schon, rote Hemden gegen gelbe, viel rennen, viel rackern. Später begrüßt Taffo die Spieler. Er nennt sie beim Vornamen, sie nennen ihn "Presidente".

Das ist so in Italien, in Mailand, in Rom oder auf einem Trainingsplatz zwischen Gemüsegärten und Olivenbäumen an der Ostküste: Überall gibt es einen Patron, der ist der Präsident, und einen Trainer, der ist der "Mister". L'Aquila Calcio hat gleich drei Präsidenten, zudem einen Zeugwart, der keinen Titel hat, sondern einfach Gaetano heißt. Er wurde zum Zeugwart befördert, weil er am Morgen nach dem Erdbeben gleich mit einem geliehenen Kleinlaster nach L'Aquila fuhr, als freiwilliger Helfer. Gaetano bot sich dem Fußballklub an. "Mein Gott, ein Erdbeben in L'Aquila!", sei sein Gedanke gewesen. "Und was wird jetzt aus dem Fußball?" Für ihn war das die Priorität.

Mit Villa durchmaschieren Die Präsidenten, der Generaldirektor und der Zeugwart wollen den ganz großen Sprung schaffen: den Sprung in die Profiliga. Wieder steht nämlich L'Aquila oben in der Tabelle, nur dass man jetzt schon eine Liga weiter ist als noch im Frühling. Wieder Aufstieg, diesmal auf dem Rasen, das ist das Ziel. L'Aquila soll nicht nur fliegen, die Mannschaft mit dem Adler soll durchmarschieren. Geführt von Marco Villa, dem Kapitän.

Villa ist 31, ein schmaler Deutsch-Italiener, er hat seine besten Profijahre hinter sich. Er spielte bei Bayer Uerdingen, in Mönchengladbach, als 18-Jähriger war Villa der jüngste Bundesligatorschütze für die Borussia. Danach kam dann nicht mehr viel. Ein Abstecher nach Österreich, einer zu Panathinaikos Athen, einer zum 1. FC Nürnberg als Reservist, danach ging er nach Italien. Arezzo, Spal Ferrara, L'Aquila. "Und hier", wundert sich Villa, "sind wir in der Amateurliga, aber alle benehmen sich, als wäre es die große Fußballwelt." Zwei lokale Fernsehsender begleiten die Spieler aus L'Aquila auf Schritt und Tritt, ein Dutzend Lokaljournalisten gehört zu ihrem Gefolge. "Wir werden behandelt wie Stars, nur weil wir Fußballer sind", sagt Villa, "welche Liga, danach fragen die Leute nicht." Fußball sei im Alltag von Italien viel wichtiger als in Deutschland.

Vielleicht, weil er die Säule des italienischen Alltags ist? Wenn alles aus den Fugen gerät, kann man noch spielen. Zwei Tage nach dem Erdbeben, als noch längst nicht alle Toten geborgen waren und die Menschen das auf dem Leibe trugen, was sie anhatten, als sie aus ihren einstürzenden Häusern flüchteten - zwei Tage nach der Katastrophe konnte man in der Zeltstadt vor der großen Kaserne von L'Aquila die Jungen Fußball spielen sehen. Sie hatten kein Zuhause mehr, aber sie hatten irgendwo einen Ball gefunden. Sie spielten auf Socken, denn ihre Schuhe waren in den Trümmern geblieben.

Marco Villa war vier Tage nach dem Beben in der Kaserne, wo später der G-8-Gipfel stattfinden sollte. Er nahm als Kapitän von L'Aquila Calcio am Begräbnis der Opfer teil. Das Schlimmste, sagt Villa, seien die weißen Särge der Kinder auf den dunklen der Eltern gewesen. Villa sagt nicht, dass er vor kurzem auf einer Beerdigung in einem Fußballstadion war. Er führte die Witwe von Robert Enke in das Stadion von Hannover 96 und stützte sie während der Trauerfeier. Marco Villa war Robert Enkes bester Freund. Er hat in diesem Jahr alles Mögliche gesehen. Manche Jahre sind so.

Die Traurigkeit geht, die Angst bleibt Es gibt keinen Platz für die Traurigkeit im Fußball, denn der Fußball soll schließlich die Trauer an die Wand spielen. Das ist seine Aufgabe. Alle Spieler von L'Aquila Calcio, sie alle sagen, sie seien froh gewesen, wieder spielen zu können. Sie spielten gleich nach der Katastrophe weiter, Freundschaftsspiele, Benefizspiele. Sie sagen auch, ihre Anhänger seien nun "viel friedlicher". Denn auch wenn L'Aquila in der fünfte Liga spielt, wo ein Tribünenplatz 15 Euro (für Frauen fünf) kostet - der Klub hat organisierte Tifosi, die rabiat werden konnten.

Jetzt aber nicht mehr, sagt Maurizio Ianni, 35, Verteidiger, einmal L'Aquila, immer L'Aquila. Ianni lebt mit anderen Obdachlosen im Hotel. Sein Bruder ist kurz vor Weihnachten in ein Berlusconi-Haus gezogen, "sehr komfortabel", sagt der Spieler. Er selbst baue an einem Holzhaus, 80 Quadratmeter, unweit der ursprünglichen Wohnung, die könne er leider noch nicht betreten. Maurizio Ianni erklärt, er nehme das Leben nach dem Erdbeben leichter als früher, "Kleinigkeiten sind mir nicht mehr so wichtig".

Teamkollege Nicola Di Francia, ein blonder Hüne, spöttisch und spitzzüngig, ist wieder in sein Haus eingezogen: "Es ist zwar eigentlich verboten. Aber was soll passieren?" Der 19-Jährige Matthias Rossi zuckt zusammen, wenn er das hört. Er wohnt mit seinen Eltern in einer Carabinieri-Kaserne, erdbebensicher. "Und trotzdem habe ich Angst. Ich werde sie einfach nicht los. Bei jedem kleinen Zittern der Erde bekomme ich Panik." Jeden Tag fahren Di Francia und Rossi gemeinsam von L'Aquila zum Training ans Meer. Die meisten Aquilaner haben den umgekehrten Weg: Von der Unterkunft an der Adria zum Arbeitsplatz in L'Aquila. Wenn sie Arbeit haben. Ein Viertel wartet noch auf die Rückkehr in den Job.

Pünktlich zum vierten Advent räumen die Männer von L'Aquila Calcio den Schnee aus ihrem Stadion. Anderswo werden wegen des Winterwetters Erstligaspiele abgesetzt, in den Abruzzen aber wird gespielt. Auch dieser Sonntag ist in L'Aquila ein ganz normaler Sonntag, schade nur, dass die Mannschaft gegen Bojano 1:3 verliert. Nach einem Tor von Villa schießen die Gäste gleich drei. Der Boden ist vereist, auf der Tribüne zittern nur die 800 Treuesten der Getreuen. Und die pfeifen die eigenen Spieler aus. Auch das ist Normalität: zu Hause verlieren gegen eine Mannschaft in Unterzahl auf einem Rasen, der kein Rasen mehr ist.

"Entschuldigt euch beim Publikum!", zetert nachher der Präsident. "Bei Menschen, die für euch gefroren haben!" Freiwillig auf dem Stehplatz festfrieren, ein Spiel so richtig verkrachen, Pfiffe kassieren. Das sind wunderbare Zeichen. Sie bedeuten: In L'Aquila alles wie gehabt. Zumindest im Stadion.

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