Fußball-Historie:Jubel in Hörweite der Folterkammern

Vor 30 Jahren gewannen Argentiniens Fußballer ihren ersten WM-Titel - für den Sport war es eine verheerende Niederlage.

Peter Burghardt

Es war ein grauer und kühler Tag im südamerikanischen Winter, als Buenos Aires sein wohl für immer zynischstes Fest erlebte. Millionen Argentinier zogen an jenem 25. Juni 1978 durch die Häuserschluchten der Hauptstadt, in deren Estadio Monumental ihre Nationalmannschaft das Endspiel gegen die Niederlande 3:1 gewonnen hatte und zum ersten Mal Fußball-Weltmeister geworden war.

Fußball-Historie: Der argentinische Kapitän Daniel Passarella hält stolz den eroberten WM-Pokal hoch.

Der argentinische Kapitän Daniel Passarella hält stolz den eroberten WM-Pokal hoch.

(Foto: Foto: dpa)

Dass Tausende Landsleute nicht mitfeiern konnten, weil sie von der Militärdiktatur des Jorge Rafael Videla verschleppt worden waren, spielte für die Masse keine Rolle. Viele wussten nicht, was in den Gefängnissen passierte. Viele wollten es auch nicht wissen, die meisten hatten Angst. Es interessierte in jenen Stunden auch wenig, dass der goldglänzende Pokal möglicherweise ergaunert worden war. Man schwenkte die himmelblauweißen Fahnen und feierte den Torjäger Mario Kempes, den Teamkapitän Daniel Passarella, den Trainer César Luis Menotti, den ersehnten Titel.

"Die Schande aller"

Es schien ein großer Sieg zu sein, tatsächlich war es eine verheerende Niederlage. Das schlimmste Desaster für den Sport seit den Nazi-Spielen 1936 in Berlin und der bis heute grausigste Skandal für den Weltverband Fifa. "Die Fiesta aller", hieß der offizielle WM-Film des Regimes. "Die Schande aller", nannte der Autor Pablo Llonto 2005 sein Buch. 30 Jahre nach der Affäre erscheinen nun neue Werke und versuchen, weiteres Licht in die Affäre zu bringen.

Längst ist klar, dass dieses Turnier in Hörweite von Folterkammern stattfand. Längst ist offensichtlich, dass Einfluss und wohl auch Geld den argentinischen 6:0-Sieg gegen Peru und den Weg ins Finale ebneten. Mittlerweile gibt ein Spieler sogar mehr oder weniger direkt zu, dass außerdem Doping im Spiel gewesen war. Das alles ist der Erinnerung wert - besonders vor Olympia 2008 in Peking, wo es die Regierung mit den Menschenrechten auch nicht so genau nimmt.

Kaum zwei Kilometer vom Stadion Monumental in Buenos Aires entfernt steht die weiß getünchte Marineschule Esma, heute ein Museum des Schreckens. Damals wurden in dem Gebäude Oppositionelle verhört und gequält, bei günstigem Wind hörten die Gefangenen die Torschreie. Manchmal vermischten sie sich mit den Schmerzensschreien der Gefolterten. Graciela Daleo kann davon erzählen, sie war als Sympathisantin der linksextremen Guerilla 1977 von den Schergen der rechtsradikalen Junta entführt worden.

"Mit blutverschmiertem Ball"

Als Häftling 008 gehörte die Chemielaborantin zu einem psychopathischen Umerziehungsprogramm zur "Wiedererlangung der westlichen und christlichen Werte". Am Abend des Triumphs wurde sie umarmt von Jorge Eduardo Acosta alias El Tigre, der gewöhnlich über Elektroschocks und Entführungen wachte. "Ganamos, ganamos", rief er, "wir haben gewonnen." Daleo schauderte. "Wenn er gewonnen hat, dann haben wir verloren", dachte sie. Obendrein zwangen ihre Bewacher sie und andere zu einer Spritztour in ein Steaklokal, durch jubelnde Menschen, danach ging es wieder in die Zelle. "Hätte ich geschrieen", sagt sie, "niemand auf der Straße hätte sich um mich gekümmert."

Frau Daleo überlebte. Bis zu 30.000 Andersdenkende und Verdächtige wurden während der Herrschaft der argentinischen Armee zwischen 1976 und 1983 erschossen, ertränkt oder zu Tode gefoltert. "Es war, als ob auf Leichen gespielt wurde, mit einem blutverschmierten Ball", sagt drei Jahrzehnte später Nora Cortiñas von den Müttern der Plaza de Mayo, die bereits seinerzeit für ihre verschwundenen Söhne und Töchter demonstrierten. Für die Madres war diese WM zumindest die Gelegenheit, jenseits der nationalen Zensur vor ausländischen Zuschauern und Reportern auf ihre Verzweiflung aufmerksam zu machen. "Bitte helfen Sie uns, Sie sind unsere letzte Hoffnung", flehte eine Mutter vor einem Mikrophon.

Kaum jemand half, trotz der Aufrufe internationaler Menschenrechtler, die vergeblich zum Boykott der Veranstaltung aufgerufen hatten. Eine Zeitlang hieß es, der Holländer Johan Cruyff habe aus Protest nicht mitgespielt, doch seine Absage hatte mit Politik nichts zu tun. Landsmann Ruud Krol geriet in die argentinische Propagandamaschine, das Magazin El Gráfico erfand einen perfiden Brief an seine kleine Tochter. "Sag' deinen Freunden die Wahrheit, Argentinien ist das Land der Liebe", verkündete das gefälschte Pamphlet.

Auf der nächsten Seite: Berti Vogts schwärmte vom "Land, in dem Ordnung herrscht - und Trainer Menotti weicht den Vorwürfen noch immer aus.

Jubel in Hörweite der Folterkammern

Die Fifa-Führung mit Gleichgesinnten wie dem Brasilianer Joao Havelange bekundete ihre Sympathie für Videla und seine Riege, DFB-Präsident Hermann Neuberger empfing fröhlich den vormaligen NS-Kampfpiloten Hans-Ulrich Rudel im abgesperrten Trainingslager. Einige deutsche Profis gaben ignorante bis dümmliche Kommentare ab. Berti Vogts schwärmte vom "Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen".

"Da wurde Druck ausgeübt"

Die argentinischen Helden wollten im Rausch des Erfolges auch lange nicht verstehen, was da mit ihnen geschah. "Einige von uns wussten es", sagt Verteidiger Alberto Tarantini nun in dem Film "Wahrheit oder Lüge" von Christian Rémoli. Man habe Videla sogar um die Freilassung von Häftlingen gebeten, ohne Erfolg, behauptet Tarantini. "Was willst du von einem Tyrannen erwarten?"

Trainer Menotti, früher Kommunist, weicht den Vorwürfen noch immer aus. Was sollte er tun gegen das Foto mit Videla, sagt er. "Es ist klar, dass ich benutzt wurde. Dass die Macht den Sport ausnutzt, das ist so alt wie die Menschheit." Menotti: "Niemand konnte sich vorstellen, dass in jenen Stunden Leichen ins Meer geworfen wurden." Auch das 6:0 gegen Peru ist ihm nicht verdächtig.

Das 6:0. Argentinien brauchte in Rosario vier Tore Differenz, um statt der punktgleichen Brasilianer ins Endspiel zu kommen. In Rémolis Dokumentation und dem Buch "Wir waren Weltmeister" von Ricardo Gotta berichten peruanische Spieler von Anrufen ihres Staatschefs, von Besuchen von Videla und US-Außenminister Henry Kissinger ("dieses Land hat in allen Belangen eine große Zukunft") in ihrer Kabine. Dem Verteidiger José Velazquez kam das "ziemlich komisch vor, da wurde Druck ausgeübt".

Spitzname El Vendido

Besonders dem Kollegen Rudolfo Manso wird vorgeworfen, er habe sich bezahlen lassen - nach der WM wechselte er nach Argentinien und bekam den Spitznamen El Vendido, der Verkaufte. "Rudolfo Mansa hat sich nicht verkauft, er hat kein Geld bekommen", verteidigt er sich. Für Torwart Ramón Quiroga ist es "sicher, dass mancher etwas genommen hat. Wir haben seltsame Dinge gesehen". Jedenfalls bekam Peru kurz darauf per Dekret 4000 Tonnen Weizen aus Argentinien. "Bei allen Weltmeisterschaften gibt es Geld und Drogen", sagt der argentinische Mittelfeldmann Oscar Ortiz. "Also gibt es bei allen Weltmeisterschaften Doping und Bestechung. Habe ich die Frage beantwortet?"

Am Sonntag sehen sich einige Sieger wieder. Im Monumental bestreiten nachdenklichere Spieler von einst und Vertreter von Opfern "Das andere Finale". Vorher findet ein Marsch von der Folterschule bis zum Stadion statt, und man wird merken, wie nah es ist.

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