Fußball-Historie:Das Wunder von Bremen

Die Schraubstollen unter den Schuhen hatten ihren Anteil am deutschen WM-Sieg 1954. Nun stellt sich heraus: Der Erfinder war gar nicht Adolf Dassler - sondern ein Schuhmachermeister aus Bremen.

Jan-Dirk Bruns

Dort, wo Bremen fast schon zu Ende ist, ganz oben im Norden, schreibt Werner Salot am "Wunder von Blumenthal". An seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch arbeitet der 74-Jährige an einem Buch über das Leben seines verstorbenen Vaters Alexander. Der war Schuhmachermeister und - da ist sich sein Sohn sicher - der Erfinder einer bahnbrechenden Technologie im Fußball. Denn Alexander Salot hat nach der Überzeugung seines Sohnes die Schraubstollen erfunden - und nicht Adolf Dassler. "Ich will die Lebensleistung von Adolf Dassler auf keinen Fall schmälern", sagt Salot, "aber der Erfinder der Schraubstollen ist er mit Sicherheit nicht. Das ist mein Vater."

Fußball-Historie: Diese Zeichnung aus dem Jahr 1949 zeigt, dass die Geschichte der Schraubstollen umgeschrieben werden muss.

Diese Zeichnung aus dem Jahr 1949 zeigt, dass die Geschichte der Schraubstollen umgeschrieben werden muss.

(Foto: Foto: oH)

Bisher gilt der Gründer des Sportartikelherstellers Adidas als Urheber des Schuhsystems, mit dem Deutschland 1954 Weltmeister wurde. Im Finale gegen Ungarn trugen die Spieler von Bundestrainer Herberger den hochmodernen Fußballschuh, sehr leicht und mit auswechselbaren Schraubstollen unter der Sohle. Je nach Zustand des Rasens konnte man schnell neue Stollen aufziehen. So machte es die deutsche Mannschaft in der Halbzeitpause am 4. Juli 1954. In Bern hatte es geschüttet, der Boden im Wankdorfstadion war aufgeweicht. Die Ungarn konnten ihre kurzen Stollen hingegen nicht auswechseln, denn die waren wie üblich auf die Sohle genagelt.

Seitdem ist der Schraubstollen-Mythos mit dem Namen von Herbergers Schuhmacher verbunden: Adolf Dassler. Doch nicht mal der größte Fachmann beim Herzogenauracher Weltkonzern glaubt noch, dass der Firmengründer die Schraubstollen erfunden hat. Nach über dreißig Jahren in der Entwicklung sagt Karl-Heinz Lang achselzuckend: "Ich weiß nur, dass all das, was ich noch vor zwanzig Jahren selber geglaubt habe, definitiv nicht stimmt. Irgendwo wird es ihn geben, den Erfinder des Schraubsystems."

Adidas wird in diesem Jahr 60 Jahre alt, genauso alt wie die Patentschrift Nr. 815 761, die Werner Salot präsentiert. Dort wird Alexander Salot als Erfinder genannt für "Fußballstiefel o. dgl. mit auswechselbaren Gleitschutzstollen", patentiert im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 30. August 1949, also knapp fünf Jahre vor dem WM-Finale in Bern. Matthias Philipp, Ingenieur und Patentanwalt in einer international renommierten Kanzlei, hat das Dokument geprüft und bescheinigt dem Schuhmachermeister aus Bremen-Blumenthal eine "deutliche erfinderische Leistung". Alle materiellen Ansprüche seien zwar verjährt, "aber natürlich hat das Patent noch seinen ideellen Wert, denn der Erfinder ist und bleibt ja Herr Salot".

Plötzlicher Produktionsstopp

Die Nachfahren von Venustus Eigler aus Oberstdorf oder die von Ludwig Wacker aus Zweibrücken-Ernstweiler mögen sich jetzt vielleicht auch mit Erfindungsleistungen zum Thema Schraubstollen zu Wort melden. Immerhin sind deren Patente schon 1925 respektive 1931 beim Reichspatentamt eingegangen. Doch der eine (Wacker) befestigte die Schraubstollen auf Lederstreifen, der andere (Eigler) benötigte eine Platte unter dem Schuh. Die Salot-Erfindung war dagegen das System, das sich bis heute kaum verändert hat.

Werner Salot hat die Geschichte jetzt einem Fernsehteam von Radio Bremen erzählt. Normal berichtet das Magazin "buten un binnen" nicht über den Blumenthaler SV, der heute in der unterklassigen Bremenliga spielt. Von 1950 bis 1952 aber wurde der Klub dreimal hintereinander Bremer Meister. Hans Levien, 82, damals Torjäger, erinnert sich, dass die Schuhe mit den Schraubstollen von Alex Salot den Unterschied machten. "Im Winter spielten wir häufig in der ersten Halbzeit auf gefrorenem Boden, also mit kurzen Stollen. Durch die Sonne war der Boden irgendwann aufgeweicht. Da haben wir auf lange Stollen gewechselt. Wir haben die Dinger nur rausgedreht, reingedreht, fertig. Die anderen rutschten, wir rutschten nicht." Salot war nicht nur Schuster, sondern auch Betreuer der Mannschaft.

Schon 1950 berichtet Der Spiegel unter der Überschrift "Mit Gewinde" über die Neuigkeit, für die sich bald Werder, Schalke und der HSV interessieren. Doch plötzlich endet die Erfolgsstory. Werner Salot erzählt von einem geheimnisvollen Treffen einiger Herren mit seinem Vater. Danach sei dieser in die Werkstatt gekommen und habe gesagt, die Stollenproduktion müsse sofort eingestellt werden. "Ich habe bis heute keine Erklärung dafür."

Alexander Salot hatte zwar Verbindungen zu einigen Vereinen, doch Adolf Dassler hatte einen sehr engen Draht zum DFB und Herberger persönlich. Wann und bei wem der Bundestrainer den Schraubstollen-Schuh zum ersten Mal sah, ist unklar. Dassler reichte sein Schraubsystem jedenfalls erst am 28. November 1952 beim Deutschen Patentamt als "Gebrauchsmuster-Hilfsanmeldung" ein, eine Art Patentvorläufer. Zu diesem Zeitpunkt spielte der Blumenthaler SV schon mehr als drei Jahre mit Salots Schraubstollenschuhen. Zwar mit Leder- und nicht wie bei Dassler mit Nylonstollen, doch nach demselben Prinzip. "Ich bin nicht der Racheengel, der überall seine Blutspuren hinterlässt. Ich will, dass die Lebensleistung meines Vaters gewürdigt wird", sagt Werner Salot, der Sohn des Mannes, der hinter dem Wunder von Blumenthal steht.

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