Süddeutsche Zeitung

Fußball:Heiko Westermann: HW4, der Sündenbock

Fünf Jahre in Hamburg haben Heiko Westermanns Image erheblichen Schaden zugefügt. Jetzt steht der Verteidiger bei Ajax Amsterdam unter Vertrag. Sein Platz ist auf der Bank.

Von Jonas Beckenkamp

Wer mit HW4 sprechen möchte, kriegt es mit dem Nordseewind zu tun. Das Telefon rauscht, die Brise pfeift durch den Hörer - Heiko Westermann frühstückt am Strand. Sind ja nur ein paar Kilometer von seinem Wohnort Amsterdam. "HW4", dieses Kürzel haben sich damals in Hamburg Marketingmenschen des HSV für ihn ausgedacht. Der erdverbundene Westermann mit der Rückennummer 4 als Gegenentwurf zum eingeölten Glamour-Ronaldo, der landläufig unter "CR7" firmiert. "Hab' ich gerne mitgemacht", sagt Westermann. "Ich schmunzle darüber, dass mich die Leute auf der Straße heute noch so nennen."

Es gibt im Fußball Gecken wie Ronaldo, es gibt Egomanen wie Ibrahimovic oder Instagramer wie Pogba - und es gibt Typen wie Heiko Westermann: Stoppelfrisur, Zweikämpfer, ehrliche Antworten, kein Facebook-Account (für das Fake-Profil in seinem Namen kann er nichts). Dieser Westermann gehört zu einer Spezies von Sportlern, deren Fortbestand gefährdet ist. Mit bald 34 Jahren ist er das "Bindeglied zwischen verschiedenen Generationen", wie er es nennt. Seine Karriere begann in den Ausläufern des sogenannten "Rumpelfußballs", sie bescherte ihm 27 Länderspiele und die Kapitänsbinde in Hamburg, aber leider auch ein Imageproblem.

Wenn der HSV - wie am vergangenen Wochenende - wieder acht Stück in München kassiert, denken alle an Heiko Westermann. Dann kramen Zyniker die HW4-Gags auf Twitter hervor. Für viele war er nämlich das Gesicht des jahrelangen Hamburger Kuddelmuddels. Er war derjenige, der vor den Kameras nacheinander ein 0:6, ein 0:5, ein 2:9 und noch ein 0:5 gegen die Bayern "einordnen" sollte (dazwischen lag noch das ein oder andere 1:3). Dabei kann einer allein ja selten was dafür im Fußball - und schon gar nichts ordnen, wenn alle anderen den Kopf einziehen.

Sein Platz ist auf der Ajax-Bank

Nach einem Jahr bei Betis Sevilla verdient HW4 sein Geld jetzt bei Ajax Amsterdam, er versteht mittlerweile "fast alles, wenn die Leute langsam Holländisch reden". Ihm gefällt die "familiäre Atmosphäre" bei Hollands größtem Klub, mit Manager Marc Overmars hatte er vor der Saison ein gutes Gespräch. Ajax sei ein Ausbildungsverein, der seine eigenen Talente entwickeln möchte, erklärte ihm Overmars. "Er sagte: 'Wird schwer, dass du immer spielst'. Und ich meinte: 'Ich schaffe es schon ins Team'", beschreibt Westermann seine Entscheidung für Ajax. Doch mit dieser Einschätzung lag der gebürtige Unterfranke gründlich daneben.

Kürzlich wurde er einmal für einen 17-Jährigen namens Justin Kluivert eingewechselt, Sohn von Stürmerlegende Patrick Kluivert. Das Problem ist: Westermann wird sonst nie eingewechselt. Sein Platz ist auf der Ajax-Bank. Dort, wo er eigentlich nie landen wollte. Zwei (kurze) Ligaeinsätze, drei Mal Europapokal und vier Spiele für "Ajax Jong", die zweite Mannschaft, sind eine karge Bilanz für einen, der mit tristen Novemberkicks gegen RKC Waalwijk oder VVV-Venlo wenig anfangen kann. Doch ausgerechnet diesen Auftritten in der zweiten niederländischen Liga kursieren jetzt schon wieder Pannenvideos mit Westermann. Dokumente des Hohns, Szenen seiner gesammelten "Böcke", wie es so schön heißt.

Und in Fußball-Talkshows beömmeln sich Experten über Kalauer wie diesen: "Ajax hat Westermann nur für die Lacher gekauft!" Dabei war Westermann mal ein Phänomen. Einer, der sich aus seinen Möglichkeiten als Fußballhandwerker eine beachtliche Karriere schnitzte: 318 Bundesliga-Spiele (26 Tore), 2008 EM-Zweiter mit der DFB-Elf, 2010 einen Kahnbeinbruch von der WM-Teilnahme entfernt, 2012 und 2013 immer wieder als Boateng/Hummels/Mertesacker-Vertreter im Nationalteam im Einsatz. Kurzum: HW4 war oft besser als sein Ruf. Es gibt haufenweise Fußballer mit schlechteren Referenzen. Trotzdem sieht es so aus, als hätten fünf Jahre Hamburg in seiner Karriere erhebliche Schäden angerichtet.

"Ich hatte in dieser Phase zehn oder elf verschiedene Trainer, zwei Manager, drei Präsidenten", erinnert sich Westermann, "es ist total schwierig, wenn man da als erfahrener Typ involviert ist. Irgendwann fragst du dich auch: 'Mein Gott, was läuft denn hier'?" Im Sog des HSV-Strudels ging er mit unter, machte Fehler, schoss Eigentore. Die Ironie um HW4, die augenzwinkernd gemeinte Imagekampagne, kehrte sich ins Negative um. Im Netz. Bei den Fans. Auch in der Süddeutschen Zeitung.

Westermann ist vorsichtiger geworden

"Es gab oft Tage, an denen man grübelt oder Nächte, in denen man nicht gut geschlafen hat", erzählt er. "Es hat sich beim HSV eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Der Verein war damals nicht in der Lage, die Außeneinflüsse von uns Spielern fernzuhalten." Zwei Mal Relegation (gegen Fürth und den KSC), zwei Mal mit allerletzter Kraft dringeblieben - für Westermann bleibt nur die Erkenntnis, dass ihn diese Zeit als Persönlichkeit reifen ließ. "Die Drucksituation war außergewöhnlich. Wenn man das mal Revue passieren lässt, war es schon ein Wunder, dass wir nicht abgestiegen sind."

Der Mensch hinter dem Akronym HW4 ist vorsichtiger geworden. "Man betrachtet vieles skeptischer, wenn man das alles durchgemacht hat. Ich bin eigentlich ein euphorischer Typ, aber mittlerweile schaue ich auf Dinge lieber zweimal." Heute weiß der Kapitän von damals das Chaos besser einzuschätzen: Der Niedergang brach nicht nur durch ein paar Stellungsfehler von ihm über den HSV herein, sondern auch, weil Typen wie Calhanoglu, Son oder Choupo-Moting nie mit ähnlich fähigen Fußballern ersetzt wurden. Weil dem Verein Ruhe und Ordnung fehlten. Weil es weder ein Konzept, noch kluge Entscheidungen der Führung, noch eine Team-Struktur auf dem Platz gab.

So erdrückte am Ende der Klub mit all seinen Problemen fast den Fußballer Westermann. Die Karrieredelle, die er aus der Hansestadt davontrug, beschäftigt ihn noch immer, so ganz gerecht beurteilt fühlt er sich rückblickend nicht. "Mein Image als Sündenbock hat natürlich mit meinen HSV-Jahren zu tun. Sowas ist schon schwierig für einen Fußballer." All diesen Ballast will Heiko Westermann hinter sich lassen, er möchte wieder mehr Anpacker sein und weniger Problembär. Bei Betis Sevilla in der vergangenen Saison klappte das ordentlich. In Holland verfestigt sich nun aber der Eindruck, dass sich sein Profileben nicht bis in alle Tage ausweiten lässt.

"Ich wollte durch meine Stationen in Sevilla und Amsterdam auch erreichen, dass sich das Bild von mir wieder ein wenig dreht", meint er. Der Fußball hat HW4 vieles ermöglich, doch er erfüllt eben nicht alle Wünsche. Sein Vertrag bei Ajax läuft bis 2018 - möglicherweise verschlägt es ihn vorher in eine andere Windrichtung. Er sagt, er habe verschiedene Pläne, irgendwas mit Sprachen - aber noch sei nichts Spruchreifes dabei.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3397443
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/hum/liv
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.