Süddeutsche Zeitung

Elfmeter-Regel:Freiheit für die Hände

Der Fußballer ist eine Fehlkonstruktion: Arme und Hände stören. Unfälle und Zufälle sollten nicht mehr mit Elfmetern bestraft werden. Eine weitere Sanktionsstufe im Strafraum muss her.

Kommentar von Klaus Hoeltzenbein

Dass der Mensch eine Fehlkonstruktion ist, ist allseits bekannt. Jedenfalls glaubt er das selbst seit Generationen, wenn wieder einmal ein Nagel in die Wand zu schlagen ist. Warum braucht es dazu zwei Geräte: einen Hammer, einen Nagel? Warum hat die Evolution aufgrund akuter Nachfrage nicht eine Art Hammerfinger entworfen, der jeden Nagel ins Gemäuer treiben kann? Sofort wäre auch das ewige Heimwerker-Problem mit dem dunkelblauen Daumen gelöst, wenn so ein Nagel mal wieder nicht präzise auf den Kopf getroffen wurde.

Eine besonders auffällige Fehlkonstruktion des Menschen ist eine seiner vermeintlich reichsten Spielarten: der Fußballer. Denn beim Fußball stören naturgemäß die mitgeführten Arme und Hände. Weshalb man den Fußballer immer häufiger dabei erwischt, wie er diese in vollem Galopp schamhaft hinterm Rücken zu verstecken versucht. Hilft aber alles nichts: Der Fußballer an sich ist ein solcher Pfusch, dass er es tagtäglich ordentlich hinterhergepfiffen bekommt. Nämlich dann, wenn der Ball nicht nur den Fuß, sondern wieder mal die Hand berührt. Auch vorige Woche waren auf höchster sportlicher Ebene, in der Champions League, erneut die seltsamsten Verrenkungen zu bestaunen.

Eine leichte Berührung nur im Strafraum, in dem, wie es der Name schon behauptet, eine verschärfte Gesetzgebung zur Anwendung kommt - schon zeigt der Schiedsrichter auf den Punkt. Und nicht selten wird durch einen gnadenlosen Pfiff die gesamte Dramaturgie eines Spiels gedreht. Absicht oder nicht? Völlig egal, bei der jüngsten Regelreform wurde das Motiv der Absicht aus der Handspielregel entfernt, nun hat der Schiedsrichter keinen Ermessensspielraum mehr. Hand ist Hand - es gibt Elfmeter. Bei allen unmotivierten Querschlägern, die zufällig leicht abgespreizte Arme streifen; bei jedem scharf kalkulierten Chip des Balles, der den Unterarm des Gegenspielers trifft.

Nur bei klarem Handspiel sollte es Elfmeter geben!

Dabei schien das von jeher in der Handspielfrage irritierte Publikum schon fast bereit zu sein, das Thema Spieltag für Spieltag über sich ergehen zu lassen, schicksalsergeben, gramgebeugt. Es gibt gerade Wichtigeres. Doch nun wird diese Fachfrage mittels einer diplomatischen Depesche an oberster Stelle wieder aufgeworfen. Der Fußball-Europachef, Aleksandar Ceferin, hat an den Fußball-Weltchef, Gianni Infantino, geschrieben, was ihn einige Überwindung gekostet haben dürfte, beide gelten nicht als beste Freunde. Ceferin bittet darum, darauf hinzuwirken, dass das Kriterium der Absicht in der Beurteilung des Handspiels schnellstmöglich wieder eine Rolle spielen soll. Nur Infantinos Fifa hat den entsprechenden Einfluss, denn ihr angeschlossen wirkt das ebenfalls in Zürich ansässige International Football Association Board (IFAB), das über die Fußballregeln wacht.

Ceferin muss unterstützt werden! Es sollten nicht mehr Unfälle und Zufälle mit Elfmetern bestraft werden, da stehen Tat und Strafe nicht in Verhältnismäßigkeit zueinander. Elfmeter bitte nur, wenn Vorteil und Vorteilsnahme zu erkennen sind. Selbst dann bliebe viel Spielraum für Interpretationen. Um diesen zu verkleinern, ist die Lösung schon seit Längerem vorgeschlagen. Eine weitere Sanktionsstufe müsste im Strafraum her: Nur bei klarem Handspiel sollte es Elfmeter geben, bei leichterem Vergehen täte es ein Freistoß.

Damit würde es zwar auch an der Trennlinie von Freistoß zu Elfmeter eine ständige Debatte geben, aber das Absolute wäre raus. Und das Absurde. Denn in welchem Gesetzbuch steht es sonst noch, dass das Motiv einer Tat strafmildernd nicht berücksichtigt werden kann? Selbst dann nicht, wenn der Fußballer, dieses Fehlkonstrukt, nur eines im Sinn hat: Seinen Arm, den überflüssigen, vor dem Ball in Sicherheit zu bringen.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2020
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