England bei der Fußball-EMHimmel und Hacke

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Hacke, Spitze, 3:0: Alessia Russo trifft im Halbfinale gegen Schweden mit einem Absatzkick, der zum Tor des Turniers erkoren werden dürfte.
Hacke, Spitze, 3:0: Alessia Russo trifft im Halbfinale gegen Schweden mit einem Absatzkick, der zum Tor des Turniers erkoren werden dürfte. (Foto: Anna Gowthorpe/Shutterstock/Imago)

Auch dank eines Traumtors zieht England ins EM-Finale im Wembley-Stadion ein. Die Auswahl ist seit 19 Spielen unbesiegt, hat dabei 104 Tore geschossen - und wirkt auf dem Weg zum Titel unaufhaltsam.

Von Anna Dreher, London

Einen Ball so kühn und frech spielen? Klar, das geht. Aber im Halbfinale einer Europameisterschaft? "Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich zuerst eine hundertprozentige Chance verpasst habe und dachte: Ich muss etwas tun", erzählte Alessia Russo. Gegen Schweden war sie in der zweiten Halbzeit eingewechselt worden. Elf Minuten später schoss die englische Nationalspielerin aus bester Position Torhüterin Hedvig Lindahl an - doch den Abpraller beförderte sie an Verteidigerin Jonna Andersson vorbei durch Lindahls Beine über die Linie. Mit der Hacke und dem Rücken zum Tor. "Ich kann mich nicht erinnern, was über mich gekommen ist, dass ich das überhaupt versucht habe", sagte sie hinterher und klang von sich selbst regelrecht überrascht. "Ich war nur dankbar, dass er im Netz gelandet ist, sonst wäre mir das peinlich gewesen."

Ihr Tor war keines, das ihr Team aus einer Lethargie befreit oder in letzter Minute eine Entscheidung über Sieg und Niederlage gebracht hätte, sondern das dritte bei einem 4:0-Sieg. Da kann man schon mal so einen Bolzplatz-Move ansetzen. Und auf diese spektakuläre Art und Weise zeigte sich, wie übervoll der Vorrat der Engländerinnen an Selbstvertrauen ist. Und wie schwer, vielleicht gar unmöglich es sein wird, sie vom Weg zu ihrem ersten Titel abzubringen. In ihrem Kunstschuss vereinte Russo Leichtigkeit, kämpferische Einstellung und eine gute Portion Chuzpe - und so steht dieser symbolisch für den gesamten Auftritt bei diesem Turnier, bei dem es den Engländerinnen gelungen ist, sich von den nun umso höheren Erwartungen nicht wie in der Vergangenheit beeindrucken, sondern antreiben zu lassen. "Du musst so viel Mut haben, um so etwas Unvorhersehbares und Phänomenales zu machen. Es war einfach unglaublich", sagte Sarina Wiegman. Die Nationaltrainerin meinte Russo - und sprach doch über all ihre Spielerinnen.

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"Heaven and heel" wortspielte der Daily Express auf seiner Titelseite, Himmel und Hacke, und traf damit die Stimmungslage gut. "Das ganze Land ist so stolz auf alles, was ihr erreicht. Wir glauben an euch und werden euch bis zum Ende unterstützen", twitterte am Dienstag Prinz William, Präsident des englischen Fußballverbands. David Beckham, der einstige Prince Charming des englischen Fußballs, applaudierte ebenfalls: "Ihr seid für alle eine Inspiration. Ihr spielt ein unglaubliches Turnier. Es ist so erhebend und aufregend." Nach drei verlorenen Halbfinals in Serie haben die Engländerinnen erstmals seit der Europameisterschaft 2009 - damals gewann Deutschland 6:2 - wieder ein großes Endspiel erreicht.

Es flossen Tränen, es wurde gelacht, die Umarmungen waren fest, und die Spielerinnen blieben lange draußen auf dem Rasen und feierten mit den Zuschauern. Aber bei alldem schwang mit, dass sie nie einen Zweifel daran gehabt hatten, auch an diesem Abend souverän gewinnen zu können. Wenn schon ein Turnier im eigenen Land, dann doch bitte mit Happy End im mit 87 000 Zuschauern ausverkauften Londoner Wembley-Stadion am Sonntagabend (18 Uhr, ARD). So lautete von Anfang an der Plan. Und so könnte es nun wirklich kommen.

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Dabei erwischten vor 28 624 Menschen in Sheffields Bramall Lane die Schwedinnen den besseren Start. Vor allem Stina Blackstenius hätte diesem Abend in der Anfangsphase eine ganz andere Dramaturgie verleihen können. Wenn sie nur getroffen hätte. Doch die Engländerinnen behielten in dieser intensiv geführten Partie die Nerven, auch dank der Reflexe von Torhüterin Mary Earps. Nach dem 1:0 von Beth Mead (34. Minute), vor allem nach dem 2:0 von Lucy Bronze (48.) - 2019 Europas und 2020 Weltfußballerin des Jahres - übernahmen sie immer mehr die Kontrolle. Nach Russos Traumtor (68.) war alles klar, Fran Kirby (76.) erhöhte noch aus der Distanz. Bei der WM 2019 hatten sie das Spiel um Platz drei gegen Schweden noch verloren. "Football's coming home" - mit jeder Minute wurden die Gesänge im Stadion lauter.

Heimturniere kann sie: Nationaltrainerin Sarina Wiegman hat 2017 mit den Niederlanden die EM gewonnen und es nun mit England wieder ins Finale geschafft.
Heimturniere kann sie: Nationaltrainerin Sarina Wiegman hat 2017 mit den Niederlanden die EM gewonnen und es nun mit England wieder ins Finale geschafft. (Foto: Lindsey Parnaby/AFP)

"Dieses Ergebnis wird um ganz Europa und um die Welt gehen", zitierte der Guardian Sarina Wiegman, die 52-jährige Niederländerin. "Das war so eine gute Leistung, dass morgen jeder über uns reden wird. Ich denke, wir haben gezeigt, dass wir sehr belastbar sind." Nach 14 Toren in der Gruppenphase gegen Österreich, Norwegen und Nordirland zeigte sich vor allem gegen Spanien die enorme Willenskraft ihres Teams, das im Viertelfinale mit zwei Toren auf einen 0:1-Rückstand antwortete. Für ihre Schnelligkeit und robuste Spielweise waren die Engländerinnen schon lange bekannt, nun kommen eine größere Ruhe und ein gewachsener Glaube an sich selbst dazu. Wiegman kennt diese besonderen Drucksituationen und weiß damit umzugehen: 2017 fand die EM in ihrer Heimat statt - die zweimalige Welttrainerin gewann das Turnier mit den Niederlanden.

Zwei Jahre später erreichte Wiegman mit Oranje das WM-Finale, ehe sie im September 2021 die Three Lionesses übernahm. Ein cleverer Zug der Football Association. Die Trainerin und der stimmige, stark besetzte Kader ergeben bisher eine gewinnbringende Kombination. "Wir übernehmen wirklich Verantwortung füreinander", hatte Wiegman zuvor gesagt, die auch bei der EM ihr feines taktisches Gespür und ihre Treffsicherheit bei der Wahl ihrer Spielerinnen zeigt.

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Sie hat sich auf eine Strategie mit einer 4-2-3-1-Formation und der gleichen Startelf festgelegt, die sie durch Wechsel klug veränderte. Russo ist das beste Beispiel: In der Offensive beginnt stets Ellen White, Englands Rekordtorschützin, der noch ein Treffer fehlt, um mit den 53 Toren von Wayne Rooney gleichzuziehen. Russo ist stets eingewechselt worden und zündete sofort den Turbo. Sie ist mit vier Treffern in fünf Spielen - hinter der deutschen Kapitänin Alexandra Popp und Beth Mead (je sechs Tore) die drittbeste Torschützin dieser EM. Seit 19 Partien ist England unter Wiegman nun unbesiegt und hat dabei 104 Tore geschossen. Eine Bilanz, die Respekt verbreitet, wenn nicht gar Schrecken.

Falls sich dieser Lauf im Finale fortsetzen sollte, wäre es für den englischen Fußball der erste Titel, seit die Männer 1966 mit dem berühmten Tor von Wembley gegen Deutschland die Weltmeisterschaft gewannen. Womöglich wiederholt sich diese Konstellation 56 Jahre später. Was für eine Geschichte.

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