Dimitri Payet ist ein Spieler, der polarisiert. Der frühere französische Nationalspieler wird von den Fans seines Vereins Olympique Marseille vergöttert, viele andere lehnen ihn ab, weil er schrille Frisuren trägt und auf dem Feld keiner Streiterei aus dem Weg geht. In Lyon mögen sie den 34-Jährigen besonders wenig, weil er meistens dann aufdreht, wenn es gegen ihren Klub geht - vier Tore und neun Vorlagen hat er in Spielen gegen Olympique Lyon gesammelt, darunter das Siegtor für Lyons Erzrivalen AS St. Etienne im 100. Rhône-Derby vor elf Jahren. Seit damals schlägt ihm der Hass der OL-Anhänger entgegen. Und dieser Hass hat sich am Sonntagabend entladen, der "Olympico" im Groupama Stadium war noch keine drei Minuten alt, da streckte eine gefüllte Wasserflasche aus Plastik den Spielmacher von Marseille nieder, als dieser die erste Ecke des Spiels ausführen wollte.
Payet lag auf dem Rasen, die Physiotherapeuten kümmerten sich um ihn, die Flasche hatte ihn an der Schläfe getroffen. Und wie er so dalag, beschlich einen das Gefühl, dass dieses Spiel vorbei war, ehe es richtig begonnen hatte. Schiedsrichter Ruddy Buquet, einer der erfahrensten französischen Referees, beorderte die Teams in die Kabinen. "Meine Entscheidung, nicht wieder anzupfeifen, stand von Anfang an fest", sagte Buquet am Abend beim übertragenden Sender Amazon Prime. Aber es habe, neben sportlichen Erwägungen, eben auch Sicherheitsbedenken für den Fall eines Abbruchs gegeben.
Und so zog sich der Entscheidungsprozess über mehr als zwei Stunden hin, weil sich offenbar die Präfektur Rhône und der Ligaverband LFP nicht einigen konnten. Der Stadionsprecher verkündete zwischenzeitlich sogar, dass die Partie fortgesetzt werde. Lyons Spieler kehrten zurück aufs Feld. Vom Gegner war jedoch keine Spur. In den Katakomben soll Marseilles Verteidiger Alvaro Gonzalez eine Tür eingetreten und Lyons Präsidenten Jean-Michel Aulas massiv beleidigt haben, als er hörte, die Partie solle zu Ende gespielt werden. Dazu kam es letztlich nicht. Aulas, der in Frankreich den Ruf eines Provokateurs hat, wenn es um seinen Klub geht, bezeichnete den Abbruch später als "unverständlich". Die Sicherheit sei gewährleistet gewesen, Payet habe "mehr Angst als Schaden" davongetragen. Aussagen, die ihm viel Kritik einbrachten.
Ende August schon hatten Wurfgeschosse Payet getroffen, der eine Flasche zurückwarf und einen Platzsturm auslöste
Tatsächlich soll der Angriff bei Payet vor allem psychisch Folgen hinterlassen haben, wie Marseilles Präsident Pablo Longoria mitteilte. Der OM-Kapitän setzte am Montag mit dem Training aus. Den mutmaßlichen Flaschenwerfer, einen 32-Jährigen, hatten die Sicherheitskräfte laut der Sportzeitung L'Équipe bereits wenige Minuten nach der Tat in Gewahrsam genommen, drei 17- und 18-Jährige seien ebenfalls verhaftet worden, weil sie Feuerwerkskörper und andere Gegenstände aufs Feld geschleudert hätten.
Der Vorfall ist der jüngste einer Reihe von Gewaltausbrüchen im französischen Fußball in dieser Saison. Ende August war das Süd-Derby Nizza gegen Marseille abgebrochen worden, auch damals hatten Wurfgeschosse Payet getroffen, der daraufhin eine Flasche ins Publikum zurückwarf - und damit einen Platzsturm auslöste. Schlimme Ausschreitungen hatte es bereits beim Nord-Derby zwischen Lens und Lille gegeben, ebenso beim Spiel zwischen Angers und Marseille.
Montpellier-Fans waren im September zudem auf einen Fan-Bus von Girondins Bordeaux losgegangen, und Ultras von St. Etienne hatten Ende Oktober vor dem Spiel gegen Angers aus Protest gegen die eigene Klubleitung ein solch massives Feuerwerk abgebrannt, dass der Rasen wahrhaftig brannte und sogar die Tornetze angesengt wurden. Auch beim "Classique" zwischen Marseille und Paris Saint-Germain im Stade Velodrome gab es eine längere Unterbrechung, als PSG-Star Neymar von OM-Fans mit Wurfgeschossen eingedeckt wurde. Damals fingen mobile Netze, die die Ordner spannten, die meisten Flaschen und Becher ab.
Vor allem die Politik ist gefragt, endlich durchzugreifen
Fraglich ist, inwiefern man im Lichte dieser Nachrichtenlage weiter Topspieler nach Frankreich lotsen will. Zuletzt hatte die Ligue 1 durch neue Gesichter wie Lionel Messi (PSG), Jérôme Boateng und Xherdan Shaqiri (beide Lyon) sowie einheimische Talente, von denen viele zuletzt in der Bundesliga landeten, an Attraktivität gewonnen.
Vor allem die Politik ist gefragt, endlich durchzugreifen. Entsprechende Ankündigungen nach dem Abbruch von Nizza im August blieben weitgehend folgenlos, sieht man von der Rückkehr der schon vor Corona praktizierten Maßnahme ab, dass zu Risikospielen keine Auswärtsfans zugelassen werden. Das war auch am Sonntag der Fall, wodurch womöglich eine zusätzliche Eskalation auf den Rängen verhindert wurde.
Sportministerin Roxana Maracineanu forderte via Twitter einen sofortigen Abbruch jeder Partie, in der ein Spieler von Anhängern verletzt wird. Für Dienstag ist ein Krisengipfel anberaumt, an dem neben Maracineanu auch Innenminister Gérald Darmanin und Vertreter aus Liga- und Fußballverband teilnehmen. Als erste Maßnahme verkündete die LFP-Disziplinarkommission bereits am Montag, dass Olympique Lyon seine Heimspiele vorerst ohne Publikum austragen muss.