Platzstürme im Fußball:Ein bisschen Anarchie

Platzstürme im Fußball: Wo ist denn der Rasen? Schalkes Spielfeld nach dem Platzsturm.

Wo ist denn der Rasen? Schalkes Spielfeld nach dem Platzsturm.

(Foto: Moritz Mueller/Imago)

Frankfurt, Köln, Schalke: Gleich in drei Stadien feiern Fußballfans dort, wo sie nicht hingehören: auf dem Rasen. Warum das kein Rückfall in die Barbarei ist.

Kommentar von Philipp Selldorf

Das Buch "Geschichte der Platzstürme in Europas Fußballstadien seit 2017" ist noch nicht erschienen, es wäre aber auch - ungeachtet der vorübergehenden Pandemiepause - ein überraschend dünnes Buch. Die jüngsten Vorfälle in den Stadien in Frankfurt, Köln und Gelsenkirchen erzeugen ein falsches Bild: Es gehört in Europa keineswegs zu den üblichen Begleiterscheinungen am Saisonende, dass die Zuschauer über die Zäune steigen, um ihre Spieler zu berühren, auf mitgebrachten Devotionalien zu lokalen Gottheiten zu beten, den Rasen zu zerpflücken und die Tore zu Kleinholz zu verarbeiten.

Tatsächlich kommen Platzstürme lediglich vereinzelt vor, meistens ausgelöst durch einen konkreten Anlass. So wie im Oktober 2019 bei einem Europacupspiel in Düdelingen, Luxemburg, als Anhänger des aserbaidschanischen Klubs FC Quarabag aufs Spielfeld gelaufen waren. Eine über dem Stadion fliegende Drohne, die mit der Fahne des verfeindeten Nachbarlandes Armenien versehen war, hatte sie in Wut versetzt. Verletzt wurde aber niemand, auch die Drohne blieb unversehrt, obwohl Spieler des FC Quarabag versucht hatten, sie mit dem Spielball abzuschießen.

Platzstürme im Fußball: Noch ein Platzsturm: In Köln machen die Fans nicht mal vor den Torpfosten halt.

Noch ein Platzsturm: In Köln machen die Fans nicht mal vor den Torpfosten halt.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Krawalle sind selten der Auslöser dafür, dass Leute von den Rängen auf den Rasen steigen. Vergleichsweise häufig sind Frankreich und Griechenland die Schauplätze von solcherart Aufruhr. In Griechenland gab es sogar mal einen Ein-Mann-Platzsturm: Ivan Savvidis, der Patron von Paok Saloniki, war während des Spiels gegen AEK Athen aufs Feld gerannt und hatte den Schiedsrichter bedroht - mit einem Revolver. Das Spiel wurde übrigens fortgesetzt, anders als 2019 das Derby zwischen Panathinaikos und Piräus, das der deutsche Gast-Schiedsrichter Marco Fritz abbrach: Zuschauer waren wegen Ausschreitungen auf den Rasen geflüchtet.

Bei Schalke gab es Verletzte wegen der baulichen Gegebenheiten - gefeiert wurde friedlich

Fritz war am Samstag auch zuständig, als Schalkes Fans nach dem 3:2 gegen St. Pauli in den Innenraum einfielen, um den Aufstieg zu würdigen. Dass es dabei etliche Verletzte gab, hatte nichts mit Gewalt, sondern mit den baulichen Gegebenheiten zu tun. Die 2000 im Innenraum feierten friedlich. Dennoch ist der DFB von Amts wegen zu Ermittlungen genötigt, auch die Vorfälle in Köln werden untersucht. Der Verband kann nicht dulden, dass das Phänomen zur Mode wird.

Die Stadionsprecher in Frankfurt, Köln und Gelsenkirchen haben alles versucht, um die Leute durch Appelle aufzuhalten. Letztlich musste man den Weg freimachen. Das Vordringen der Fans ist ja auch nichts Unmoralisches. Es ist kein Rückfall in die Barbarei, sondern Ausdruck von Freude - und Freude an ein bisschen Regellosigkeit. Zumal nach den reglementierten Corona-Jahren viele Menschen das Gemeinschaftserlebnis gerade besonders suchen. Gegen einen geordneten und gesitteten Platzsturm wäre also nichts einzuwenden, doch Anarchie mit TÜV-Siegel wäre ein Widerspruch in sich selbst.

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