Fußball-Fans:Elf Sänger müsst ihr sein

So viel Schwarz-Rot-Gold war nie: Für viele Fans sind die Nationalfarben vor allem ein buntes Kostüm zum Feiern, den patriotischen Druck spüren die Spieler dafür umso mehr.

Holger Gertz

Rechtzeitig zur Weltmeisterschaft gibt es die großen Spiele der deutschen Geschichte überall auf DVD zu kaufen, und schon die ersten Minuten jedes Films zeigen, was sich geändert hat im deutschen Fußball. Man sieht die Fußballer bei der Hymne, zum Beispiel bei der Vorrundenpartie 1974, DDR gegen Bundesrepublik Deutschland. Männer mit bizarren Frisuren, die Kamera fährt an Gesichtern entlang, die konzentriert sind und irgendwie leer.

Keiner singt, allerdings kaut Wolfgang Overath auf einem Kaugummi herum, und besonders heftig kaut Bernd Cullmann. So ging das jahrelang, seitdem das Fernsehen den Fußball auszuleuchten begonnen hat. Sechziger, siebziger, achtziger Jahre, schwarzweiße Gesichter, dann Farbfernseh-Gesichter, früher gut rasiert, später betont mehrtagebärtig. Gesichter über V-Ausschnitten, über Rundkragen, der Wind teilte Frisuren, die Münder waren wie Striche, wenn nicht Kaugummis zermalmt wurden. Nur Sepp Maier, der Torwart, hat irgendwann einmal geblinzelt. Ein Gruß an die Kinder zu Hause. Die Boulevardzeitungen fragten, ob man das darf, blinzeln bei der Hymne. Es war ein kleiner Skandal.

Die anderen Teams sangen ihre Hymne, und weil die Mikrofone inzwischen so sensibel waren, konnte man hören, dass Nationalspieler jämmerliche Sänger sind. Brummelnde Brasilianer, heisere Holländer, flüsternde Franzosen. Die singen die Marseillaise, und der Text geht so: Sie rücken uns auf den Leib, eure Söhne, eure Frauen zu köpfen.

Irgendwann begannen dann auch die Deutschen zu singen, am lautesten sang Lothar Matthäus. Aber so wie bei dieser WM war es nie. Die Mannschaft singt nicht nur vor dem Spiel, sie baut sich auf. Arme legen sich um Schultern und Hälse, sie will wie eine Menschenmauer aussehen, wie atmende, dampfende Entschlossenheit. In einem engen Fußballstadion wie in Dortmund, vor dem Vorrundenspiel gegen Polen, blickt die Mannschaft in die Zuschauerränge hinein, und sie blickt dabei wie in einen Spiegel. Elf Sänger sehen tausend Singende.

Die Gruppen rufen einander an. Von hinten allerdings sieht so eine Mannschaft, Arm in Arm, rührend linkisch aus in ihrer Unvollkommenheit. Die Krakenarme des riesigen Per Mertesacker ragen über die Schulterpartien der Nebenmänner hinaus, der winzige Verteidiger Lahm packt den Hünen Metzelder nur an der Hüfte.

Man kann die Nationalmannschaft von zwei Seiten sehen. Man kann sie sehr ernst nehmen und in ihrem Spiel ein Zeichen erkennen, für den Zustand des Landes. Oder man kann den Kern des Fußballs sehen wollen, der ein Spiel ist, nur ein Spiel. Oder man kann Spaß haben wollen an der Nationalmannschaft.

Vor dem Spiel gegen Polen wandern die Fans die Lindemannstraße entlang, vorbei an einer Kneipe, die "Bürgermeister Lindemann" heißt. Sie tragen überall die deutschen Farben. Auf der Glatze, auf der Hose, sie tragen sie als Rock und als Tattoo, und wenn Franz Beckenbauer mit seinem Hubschrauber über diese Straße flöge, sähe das unter ihm aus wie früher die Käse-Igel im Partykeller. Etwas, dessen Oberfläche nur aus Fähnchen besteht.

Es ist ein friedliches Defilée der Fans, viel Bier, viele Lieder, viele junge Fans dabei, Kinder, die den deutschen Stürmer Odonkor nicht Odonkor nennen, sondern Okondor und Okoronkor. Sie kennen ihn noch nicht richtig, sie nehmen zum ersten Mal teil an dieser Party, die Fußball-WM heißt.

"Nur zwei Rudi Völler"

Die Mädchen haben sich das Wort Ballack auf den Bauch gemalt, wie sie sich Robbie auf den Bauch malen beim Robbie-Williams-Konzert oder sogar Bene, beim Papstbesuch voriges Jahr. Beim Weltjugendtreffen in Köln predigte Benedikt XVI., er sprach mit hoher Stimme und redete vom Unterschied zwischen Sex und Liebe, aber unten, wo die Leute ihm zuhörten, war der Absatz von Kondomen groß und der Unterschied zwischen Sex und Liebe grad' nicht so wichtig. Der Papstbesuch war ein Anlass, sich zu treffen, die Weltmeisterschaft ist das für viele auch.

Das Poster vom Papst, mit dem damals alle wedelten, wurde kostenlos verteilt, die schwarz-rot-goldene Fußball-Schminke kriegt man heute billig in den Ein-Euro-Shops, von denen es in jeder deutschen Fußgängerzone Dutzende gibt. Ein paar Soziologen haben nach dem Papstbesuch geschrieben, die Begeisterung sei Ausdruck einer neuen Frömmigkeit, dabei ist das so wenig zu belegen wie die Annahme, schwarz-rot-golden bemalte Gesichter seien Beweis für eine neue Form von Patriotismus, den die Bild-Zeitung seit Tagen schwarz-rot-geil nennt.

Am Ende des Wegs, kurz vorm Stadion, steht einer, der genauso aussieht wie Rudi Völler. Die Fans lassen sich mit ihm fotografieren und singen das passende Lied: "Zwei Rudi Völler, es gibt nur zwei Rudi Völler." Dann beginnt das Spiel.

Die Deutschen rennen und kämpfen, das Stadion ist ein brodelnder Topf, am Ende sind die Polen nur noch zu zehnt, und der eingewechselte Odonkor schickt den Ball in die Mitte, wo der eingewechselte Neuville steht und den Ball reindrückt. Zum Fest kommt das Glück, und es passt irgendwie, dass das Gewitter über Westdeutschland bis kurz nach Spielschluss wartet, bis es losbricht.

Ein Journalist nennt ihn Per und begrüßt ihn mit "Hi", aber Mertesacker bleibt beim Sie. "Sie können sich sicherlich vorstellen, die Stimmung war wahnsinnig, so was habe ich lange nicht mehr erlebt." Und dann spricht er noch über die Idee, dass die Spieler ja auch mal aus ihrem abgeschirmten Schlosshotel rauskommen könnten, um die Fans zu treffen, deren Anfeuerung sie im Stadion brauchen wie Luft und von der sie sonst vor allem nur aus dem Hotelfernsehen wissen.

Oliver Bierhoff, der Teammanager, hatte überlegt, mit der Mannschaft auf die Fanmeile zu gehen, wo jeden Tag Hunderttausende die Spieler und sich selbst feiern. Per Mertesacker wägt die Worte, sein Kiefer mahlt, man sieht, dass es arbeitet in ihm. Dann gibt er eine Erklärung ab, zum Thema Nähe und Distanz: "Natürlich möchte man schon mal was von Berlin sehen und auch von den Menschen, und deshalb würd' ich das vielleicht sogar unterstützen, aber ich würd' mich dann ganz gut verkleiden. So viel Rummel um meine Person ist absolut nicht mein Fall."

Das doppelte Misstrauen

Es ist ein Augenblick, in dem er aussieht wie der Zivildienstleistende aus Pattensen, der er ist. Es ist ein Augenblick, der seinen adrenalindurchtränkten Auftritt vom Vorabend wie ein Schauspiel wirken lässt.

Fußballmannschaften - vor allem solche, die sich auf ihr Spiel nicht immer verlassen können - müssen sich von außen helfen lassen, damit sie erfolgreich sein können. Es geht darum, den Druck richtig zu dosieren, die Die Fans können die Spannung genießen, die Spieler müssen ihr standhalten. Das ist ein gewaltiger Unterschied, und wer die Nationalmannschaft beobachtet in den ersten Tagen der WM, ihrer WM, kann den Eindruck bekommen, dass auch ihr Verhältnis zum Patriotismus ein anderes ist als das der Leute auf der Tribüne. Es wirkt verbissener, zumindest wirkt es ungewohnt. Christoph Metzelder, der Dortmunder Verteidiger, hat gesagt, er halte ein hohes Maß an Patriotismus für überfällig.

Per Mertesacker, der Hannoveraner Verteidiger, hat nach dem Spiel gegen Polen versucht, so viel Bedrohlichkeit wie möglich in sein Jungsgesicht zu legen, dann hat er auf die Journalisten geschimpft. "Weil ihr sitzen geblieben seid." Vergeblich hatte er nach dem Abpfiff noch auf dem Platz mit rudernden Armen versucht, die Journalisten dazu zu bringen, auf die Stühle zu steigen.

Per Mertesacker, ein zurückhaltender schlaksiger Junge, wollte nach dem Spiel eins sein mit den Journalisten und den Zuschauern und der Stimmung, dabei ist er eigentlich eher jemand, der gern für sich ist. Am nächsten Tag, bei der Pressekonferenz in Berlin im ICC, wo die Spieler über eine Bühne zum Mikro schreiten und dabei grün angestrahlt werden, als wären sie Gesandte aus einer anderen Welt, ist Mertesacker schon wieder sehr bei sich.

Er hat Motivationsbücher gelesen, er kennt sich aus in Psychologie, er appellierte an die Herzen und an die Köpfe, als er sagte: "Unsere Mannschaft ist Weltklasse." Jeder hatte gesehen, dass die Mannschaft nicht Weltklasse war, aber jeder war irgendwie geneigt, dem Torwart zu glauben. Er stand ja drin in dieser Mannschaft, in ihrem Bauch, im Tor. Kahn redete immer von der Mannschaft, von der Gruppe, von der Verantwortung des Einzelnen für alle, sein Knautschgesicht war wie die Miene eines Buddha, der irgendwie mehr weiß als alle anderen. Aber Oliver Kahn redete nie von Patriotismus.

Patriotismus ist erst so ein Thema geworden in diesem Team, bei dieser Weltmeisterschaft zu Hause. Oliver Kahn ist gerade 37 geworden, er ist aufgewachsen in einer Zeit, als das Thema als schwierig verstanden wurde. Die Verteidiger Mertesacker und Metzelder waren noch Kinder, als die Mauer fiel; ihr Patriotismus ist für sie ein normales Mittel, den Druck hochzuhalten und sich gleichzeitig der Gefolgschaft der Fans zu versichern.

Balance zu finden zwischen dem Druck, den man braucht, um was zu schaffen. Und dem Druck, der einen zerquetschen kann. Die Spieler brauchen die Unterstützung des Publikums, brauchen die enorme Triebkraft der Genugtuung, manchmal brauchen sie auch jenseits des Platzes einen Gegner, dem sie es zeigen können.

Es jemandem zu zeigen, sorgt ja für Genugtuung. Das Team von Jürgen Klinsmann ist ein klassischer Fall einer Elf, der fast niemand etwas zugetraut hat - und die jetzt angefangen hat, es denen jenseits des Platzes heimzuzahlen. Dem Trainer Klinsmann hat auch keiner was zugetraut, das Misstrauen ihm gegenüber war sogar doppelt. Er ist ein Neuling als Trainer, und er ist ein fremder Mann, der dauernd heimfliegt nach Kalifornien und amerikanische Fitmacher mit dem deutschen Team komische Gummibandübungen machen lässt.

Vor vier Jahren in Japan und Korea, als die Mannschaft Vizeweltmeister wurde, war es ganz ähnlich, aber da hatten sie den Meister des Druckmachens im Tor, der auch der Meister des Druckbewältigens ist. Oliver Kahn hielt manchmal vor den Journalisten und auch im Hotel bei den Mitspielern kleine Vorträge.

Wenn die Fans eins sind mit den Spielern, werden sie ihnen vielleicht sogar eine Niederlage verzeihen. Der Appell an den Patriotismus ist auch eine Art Abfederung für das, was noch kommt, so oder so.

Das, was als Patriotismus beschrieben wird, teilt sich in Gruppen. Der Eventpatriotismus der Fans, der pragmatische Patriotismus der Mannschaft, der Auflagen- und Quotenpatriotismus der Massenmedien. Alles segelt unter schwarz-rot-goldener Flagge.

Aber wo trifft es sich? Es gibt auch den Unterhosen-Patriotismus, bei Bild kommt alles, was mit Fußball zu tun hat, durch die Unterhose. Sie schreiben von schwarz-rot-geiler Stimmung, in der Freitagnummer lösen sie endlich auf, wer diese Stimmung auslöst: David Odonkor. Er ist "der Geil-Macher".

Manche wundern sich über das, was passiert. Manfred Breuckmann, der berühmte WDR-Reporter, steht Donnerstagnachmittag auf dem Münchner Flughafen und wartet auf den Flieger heim nach Düsseldorf. Er war in einer Diskussionssendung beim Deutschen Sportfernsehen DSF, mit ihm diskutierte ein Kollege vom BR, über das Spiel gegen Polen und die Stimmung überhaupt.

Es war ein sehr junger Kollege, aber Breuckmann, geboren sechs Jahre nach dem Krieg, studierter Jurist, ist ein Routinier, für die Radiohörer ist er die Stimme aus dem Westen. Seit 1972 kommentiert er Fußball.

Als beim DSF der junge und der erfahrene Reporter sich trafen, trafen sich zwei Welten. Breuckmann sagt: "Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hat er gesagt, das sei ein Tag zum Feiern und nicht ein Tag, um Kritik zu üben. Da hat er im Grundkurs nicht richtig aufgepasst. Wir sind keine Fans, sondern Journalisten, und die können beides zusammen, sich über einen deutschen Sieg freuen und gleichzeitig die kritische Analyse nicht vergessen." Breuckmann liest die Zeitungen, hört den Kollegen zu, sieht die Fußballer.

Er sagt: "Die Herren sollten sich grundsätzlich abgewöhnen, den Fußball mit einem weltanschaulichen Überbau zu versehen. Fußballspiele müssen nicht mit glühenden Bekenntnissen zum Vaterland garniert werden." Breuckmann weiß, dass jetzt wieder einige sagen werden, er ist ein Spielverderber, aber er ist gar kein Spielverderber. Er ist Journalist, und er kennt den Fußball, auch den jenseits der WM. "Ich habe nach dem Tor gebrüllt wie am Spieß, weil ich mich gefreut habe. Aber nicht, weil ich mein Vaterland so heiß und innig liebe. Ich reagiere auch so, wenn Schalke in der Champions League ein Tor gegen den AC Mailand schießt."

Er sieht die Mannschaft, die sich zu einer Wand aufbaut vor dem Spiel und zu einem Kreis beim Training. "Wir-sind- ein-Team", schreien die Spieler. Auch das ist neu. Breuckmann sagt: "Wenn's dem Teamgeist dient - ich hab nichts dagegen. Sie sollen auch diesen amerikanischen Motivations-Voodoo-Zauber veranstalten. Mich befremdet das, aber ich kann mich nicht auch noch darüber aufregen." Aber es regt ihn natürlich doch auf.

Beckenbauers Paradies

Die Mannschaft steht jetzt im Achtelfinale. Das Mindestziel, mehr nicht. Im ZDF sagt ein Reporter: "Es liegt was in der Luft: Deutschland scheint bereit zu sein, Großartiges zu leisten." Deutschland, sagt er.

Franz Beckenbauer, der im Hubschrauber von Spiel zu Spiel fliegt, sagt: "Wir leben in einem Paradies, wir haben ein wunderschönes Land." Er hat leicht reden, er sieht immer alles nur von oben. Aber unten, bei den Fahnen, staut sich ein Druck, es besteht die Gefahr, dass etwas aus der Balance gerät. Und wenn die Fußballer wider Erwarten doch nicht Weltmeister werden, werden die Fans zum nächsten Konzert ziehen, und die Medienleute werden schlachten, wen sie vorher bejubelt haben, wie immer, der Auflage wird es nicht schaden.

Aber die Fußballer müssen das dann mit sich ausmachen. Es gibt zwar jetzt auch Pflaster in Schwarz-Rot-Gold, aber die helfen da nicht.

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