Granit Xhaka bei der Fußball-EM:Der Schweizer Kroos

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98 Pässe und eine Erfolgsquote von 96 Prozent: Granit Xhaka im Spiel gegen Italien. (Foto: Ronny Hartmann/AFP)

Granit Xhaka ist für die Schweiz, was er in dieser Saison auch für Meister Leverkusen war: der Mittelfeldspieler, der die meisten Pässe spielt und dem Spiel Struktur verleiht. Was ihn dabei auszeichnet, erklärt Bayer-04-Analyst Marcel Daum.

Von Sebastian Fischer

Granit Xhaka hat schon 13 Jahre als Nationalspieler hinter sich, aber gerade macht er trotzdem noch mal neue Erfahrungen. Er hat davon dieser Tage gesprochen, als er im Teamquartier der Schweizer Nationalmannschaft in Stuttgart eine Pressekonferenz gab. „Ich habe die Italiener auf dem Platz noch nie so leise erlebt“, sagte er über den Gegner beim 2:0-Sieg im Achtelfinale am vergangenen Wochenende. Was allerdings auch daran gelegen haben könnte, dass er selbst so laut war.

Der Mittelfeldspieler von Doublesieger Bayer Leverkusen war beim Viertelfinaleinzug der Schweiz mal wieder einer der besten Spieler auf dem Platz. 98 Pässe spielte er, 96 Prozent seiner Zuspiele kamen an, drei Torschussvorlagen waren darunter. Noch auffälliger aber als der Ertrag seiner Aktionen mit dem Ball war seine Interpretation der Chefrolle. Er forderte den Ball auch unter Druck, dirigierte seine Mitspieler in die passenden Positionen, gab sogar das entscheidende zweite Tor in Auftrag, wie der Schütze Ruben Vargas berichtete: „Granit hat gerufen, ich soll schießen.“ Also schoss Vargas. Und traf.

Vor dem Viertelfinale gegen England ist es deshalb wohl die wichtigste Nachricht für die Schweiz, dass Xhaka einsatzbereit ist. Eine Untersuchung der Adduktoren, die ihm gegen Italien Probleme bereiteten, ergab: keine Verletzung. Im Land des Gegners könnte der Respekt vor ihm größer kaum sein. Der Guardian schrieb gar, Xhaka sei nur drei Spiele davon entfernt, ein Kandidat für den Ballon d’Or zu sein.

So verwegen das erst mal klingt, so hat der Schweizer den namhafteren Größen bei dieser EM tatsächlich voraus, wie sehr diese für ihn so herausragende Saison seine Karriere definieren könnte. Weil er eine Rolle einnimmt, die für ihn wie geschaffen zu sein scheint.

Xhakas Kernkompetenzen laut Daum: Mut und höchste Passqualität unter Druck

Zur Erinnerung: Vor etwas mehr als einem Jahr war Xhaka noch ein zwar ausgezeichneter, aber beim breiten Fußballpublikum wohl noch mehr als Heißsporn denn als Stratege berühmter Mittelfeldspieler vom FC Arsenal. Seine taktische Rolle: eher die Nummer acht. Es folgte der Wechsel nach Leverkusen. Fortan war Xhaka, der nebenbei seine Trainerlizenz erwarb, eine Art spielender Assistenzcoach im europaweit bestaunten Xabi-Alonso-Fußball – und die Nummer sechs, defensiver als in London also.

In Leverkusen war er nahezu unverzichtbar, machte 50 Partien, davon 47 in der Startelf. 89 Stunden hat er in den vergangenen elf Monaten insgesamt gespielt. Für die Schweiz stand er seit vergangenem Juni in jedem Pflichtspiel über die volle Dauer auf dem Platz.

„Ich habe das Gefühl, dass wir hier noch nicht fertig sind“, sagt Granit Xhaka, der maßgeblichen Anteil daran hat, dass die Schweiz das EM-Halbfinale erreichen kann. (Foto: Fabrice Coffrini/AFP)

Es ist vor und während des Turniers zur Genüge erzählt worden, wie sich der Kapitän Xhaka mit seinem Trainer Murat Yakin nach Meinungsverschiedenheiten in der Vergangenheit zusammengerauft hat, und wie Yakin seine Taktik umgestellt hat, sodass Xhaka ähnlich wie in Leverkusen vor einer Dreierkette im Zentrum des Spiels steht. Yakin sagte vor dem Turnier über Xhaka: „Solange es dem Erfolg nützt, darf er alles machen.“ Und Xhaka lässt kaum eine Gelegenheit aus, den Trainer und seine Ideen in den höchsten Tönen zu loben.

Wie sehr der Xhaka im Schweizer Team jenem in Leverkusen gleicht, was seinen Wert auf dem Platz ausmacht, das kann wie kaum jemand sonst Marcel Daum einschätzen. Der Sohn des ehemaligen Bundesligatrainers Christoph Daum ist Co-Trainer für Analyse bei Bayer 04. „Die Rolle, die er ausfüllt, ist relativ ähnlich“, sagt er. Wie Xhaka dem Spiel von hinten heraus die Struktur gebe, wie er auf dem Platz kommuniziere, wie wenige Fehler er mache – all das sehe man nun bei den Spielen der Schweiz genau wie in der vergangenen Saison in Leverkusen.

Wenn Daum die größten Stärken Xhakas erklärt, unterteilt er sie in zwei verschiedene Kategorien. Einmal die „Softskills“, wie er es nennt: keine Angst, sondern Mut, in jeder Situation den Ball zu fordern. Mit weitem Abstand hatte er in der vergangenen Saison die meisten Ballberührungen aller Bundesligaspieler. Hinzu kommt die „absolute Top-Qualität, unter Druck mit dem Ball hochwertige Lösungen zu finden“. Xhaka gelangen mit Abstand die meisten Pässe und die meisten Pässe ins Angriffsdrittel.

Sein Passspiel, das liegt nahe, wird manchmal mit dem von Toni Kroos verglichen, auch wenn es nicht die gleiche Qualität und Frequenz erreicht. Kroos ist schließlich, solange er während dieser EM noch als aktiver Fußballer gilt, der wohl beste Passgeber auf der Welt. Xhaka gehört jedoch zum erlesenen Kreis seiner Nacheiferer. Daum verweist zum Beleg auf eine Statistik zum Spiel gegen Italien: Da spielte Xhaka 25 sogenannte linienbrechende Pässe, also solche, die eine Abwehrkette überwanden. Nur Kroos waren zu dem Zeitpunkt bei der EM mehr gelungen (das sogar in jedem einzelnen Gruppenspiel).

In Leverkusen spielt Xhaka stilbedingt mit deutlicher Mehrheit kurze Pässe – etwas mehr als die Hälfte überbrückten nur zwischen fünf und 15 Metern. Daum führt es vor allem auf Xhakas Einfluss zurück, dass aus der Schweiz zumindest in manchen Spielen eine Ballbesitz- und Kurzpassmannschaft geworden ist, wenn auch nicht im Ausmaß von Spanien oder Deutschland.

Mehr als Kroos oder Rodri muss er im Nationalteam auch ohne Ball effektiv sein

Was Xhakas Rolle von jener von Kroos fürs deutsche Team oder Rodri bei den Spaniern unterscheidet und damit auf andere Weise anspruchsvoll macht: Auch wenn die Schweizer gerne den Ball haben, müssen (und können) sie ihm auch oft und effektiv hinterherlaufen. Das Gruppenspiel gegen Deutschland, als die Schweizer den Gegner mit ihrem Pressing nur schwer zur Entfaltung kommen ließen, war dafür bisher das beste Beispiel. Anders als in Leverkusen muss Xhaka also in längeren Phasen das sogenannte Spiel gegen den Ball mit anleiten und mehr Defensivzweikämpfe führen. Gegen Deutschland spielte er nur 43 Pässe, ein nahezu verschwindend kleiner Wert für ihn. Trotzdem wurde er zum Spieler des Spiels gewählt. „Er erkennt die Räume, die man schließen muss“, sagt Daum.

Manchmal seien es auch die kleinen, völlig unscheinbaren Aktionen, die von großem Wert sind. Etwa wenn Xhaka in einer unruhigen Spielphase den Ball per Kopf zu Torwart Yann Sommer zurückspielt, anstatt den nächsten Pass zu versuchen, selbst wenn er möglich wäre. „Und schon ist der Rhythmus des Gegners gebrochen, anstatt das Spiel wieder wild zu machen“, sagt Daum.

Gegen England wird Granit Xhaka sein 65. Spiel dieser Saison bestreiten. Es könnte eines der wichtigsten seiner Karriere werden. Im Halbfinale einer EM stand die Schweiz noch nie. „Ich habe das Gefühl“, sagte er, „dass wir hier noch nicht fertig sind.“

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