Fußball-EM:Wie in Marseille die Gewalt eskaliert

England v Russia - EURO 2016 - Group B

Solche Szenen gab es zuhauf an diesem Samstag in Marseille.

(Foto: REUTERS)
  • Blutende Menschen, wüste Schlägereien, überforderte Beamte: Seit Tagen wüten Hooligans durch den Hafen von Marseille.
  • Vor dem Auftaktspiel der Engländer wird ein Mann offenbar lebensgefährlich verletzt.

Von Maik Rosner, Marseille

Am Donnerstagabend waren es angeblich die Provokationen einiger französischer Jugendlicher. Am Freitag folgten Zusammenstöße mit russischen Fans. Und am Sonnabend, Stunden vor dem ersten Spiel dieser EM in Marseille zwischen den Nationalmannschaften aus England und Russland, mündeten die tagelangen Krawalle in der südfranzösischen Hafenstadt in regelrechten Exzessen der Gewalt.

31 Personen wurden nach Polizeiangaben leicht verletzt, vier schwer. Ein englicher Fan schwebt Innenminister Bernard Cazeneuve zufolge in Lebensgefahr, außerdem wurden drei Polizisten verletzt.

Während des Spiels blieb es in Marseille ruhig, doch nach dem Schlusspfiff im Stade Velodrome stürmten russische Fans in den englischen Block, Ordner konnten sie nicht daran hindern. Zuschauer mussten in den Innenraum springen, um den Prügeleien auszuweichen. Später am Abend gab es zudem gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen nordirischen Fans und einheimischen Jugendlichen in Nizza. Sieben menschen wurden verletzt, wie die Polizei mitteilte.

Die Uefa teilte mit, dass man die Vorfälle "aufs Schärfste" verurteile. "Personen, die in solche Gewalttaten involviert sind, haben keinen Platz im Fußball", so der europäische Fußballverband in einer Mitteilung.

Stufenweise war die Gewalt eskaliert, mit dem Höhepunkt am Samstag, Stunden vor der schon im Vorfeld als Risikospiel eingestuften Begegnung zwischen England und Russland. Videobilder zeigen, wie ein Mann nach wüsten Schlägereien auf der Straße von Sicherheitskräften wiederbelebt werden musste. Offenbar handelte es sich dabei um jenen britischen Fan, der weiterhin in Lebensgefahr schweben soll.

250 Polizisten und ein Hubschrauber im Einsatz

Ebenso zu sehen waren auf den Videoaufnahmen blutüberströmte Menschen. Und zudem, wie auf bereits am Boden liegende Personen unnachgiebig eingeprügelt und eingetreten wurde. Die unterschiedlichen Gruppierungen gingen mit abgeschlagenen Flaschen, Eisenstangen und Stühlen aufeinander los. Zunächst waren 250 Polizisten und Angehörige der Gendarmerie im Einsatz, weitere Kräfte wurden hinzugezogen, am Himmel kreiste ein Hubschrauber. Die Polizei setzte Tränengas ein, konnte die Lage aber trotz eines massiven Aufgebots nicht nachhaltig beruhigen. Der Polizeipräfekt Laurent Nunez bezeichnete die neuerlichen Auseinandersetzungen als "massiv", beteiligt gewesen seien Schläger aus England, Russland und Frankreich.

Der englische Fußballverband (FA) reagierte bestürzt. "Wir sind wirklich enttäuscht von den Szenen des Chaos in Marseille und verurteilen solches Verhalten", teilte die FA mit, "wir bitten alle Anhänger, die nach Frankreich kommen, sich respektvoll zu benehmen."

Kevin Miles, Chef der englischen Fanvereinigung, sprach gegenüber dem englischen Sender Sky Sport News über "bedauerliche Szenen, das kann man nicht leugnen." Zugleich sagte er wie tags zuvor aber erneut, die englischen Fans seien Opfer von Provokationen und Attacken geworden. "Es waren Gruppen von Einheimischen und Gruppen von Russen, die hierherkommen und die Gewalt gestartet haben", sagte Miles.

Die Angst vor dem Terror war das große Thema vor der EM gewesen. Doch für Entsetzen sorgen nun Fußballanhänger, die wohl vielmehr als Hooligans eingestuft werden müssen. Offenbar gezielt hatten sie die Krawalle immer wieder angezettelt. Laut Augenzeugenberichten sollen englische Fans am Donnerstagabend "Isis, where are you?" gerufen haben, ehe es zu den ersten Ausbrüchen gekommen war. Auch im EM-Spielort Lyon soll es zwischen Franzosen und Engländern gekracht haben. Bekannt sind solche Momente auch von der WM 1998, als sich englische Anhänger ebenfalls in Marseille Straßenschlachten geliefert hatten - damals mit Fans aus Tunesien.

Viele Fußballfans und Einwohner der zweitgrößten Stadt des Landes dürften von den aktuellen Krawallen aber gar nichts mitbekommen haben. Denn sie spielten sich an allen Tagen ausschließlich im Kneipen- und Amüsierviertel am Hafen ab. Provokationen zwischen Engländern und Franzosen waren wenige Stunden vor dem Samstagspiel aber auch auf dem Weg aus der Metro ins Stadion zu beobachten.

Seltsame Szenen zwischen Tourismus und Randale

Seltsame Szenen zwischen Tourismus und Randale

Am Plage du Prado, rund um die beiden offiziellen Fanzonen mit den großen Leinwänden an Marseilles Stadtstrand, blieb dagegen zunächst alles friedlich. Auch am Freitagabend hatte es hier anders als am Hafen keine Probleme gegeben. Wohl auch wegen der Sicherheitskontrollen. Richtig voll war es beim Eröffnungsspiel zwischen Frankreich und Rumänien in den beiden Fanzonen zwar nicht geworden, zumindest ordentlich besucht waren sie aber schon von einigen Tausend Menschen.

Ein vor allem junges, internationales Publikum, darunter viele Touristen, bevölkerte heute große Teile der Marseiller Innenstadt. Manche standen, viele saßen vor den Leinwänden, in einer entspannten Atmosphäre. Von Angst vor Terror war hier wenig bis nichts zu spüren.

Verhängnisvoll kann es aber auch sein, am Hafen von Marseille in eine Schlägerei verwickelt zu werden. Die Hundertschaften von Polizisten in Kampfmontur und die unzähligen Glasscherben auf dem Asphalt ließen in der zweiten Halbzeit während Frankreichs Auftaktspiel erahnen, wie es hier bei den aktuellen Ausschreitungen zugegangen sein muss, als Flaschen und Stühle flogen und ein englischer Fan sogar ins Hafenbecken plumpste, nachdem er zuvor angeblich von Franzosen isoliert worden war.

Am Samstagabend waren dann nur noch einige stark alkoholisierte englische Fans zu beobachten, hauptsächlich wieder an jenem Irish Pub, an dem es am Vorabend zu Zusammenstößen mit französischen Jugendlichen gekommen war. Briten sangen, was die Stimmbänder noch hergaben nach erkennbar vielen Litern Bier. Ein Fan hatte eine üble Schnittwunde am Hinterkopf, auf sein T-Shirt war viel Blut getropft. Einige hundert Meter weiter saßen auch Franzosen in diesem Vergnügungsviertel mit den vielen Bars und Restaurants.

Vor der Metrostation war derweil eine junge Engländerin zu beobachten, die mit vier schwer bewaffneten Polizisten posierte. Sie hielt das Schutzschild eines Beamten und ließ sich zusammen mit ihm und seinen Kollegen von einem Kumpel fotografieren. Zwischenzeitlich wurde auch der Vorwurf laut, die Polizei habe die Ausschreitungen durch ihr wenig deeskalierendes Verhalten begünstigt. Ein Freund der Engländerin sagte zu den Beamten: "Nicht alle Engländer sind so schlimm."

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