Fußball-EM:Wales berauscht sich am Teamspirit

Die meisten Siege in der regulären Spielzeit, die zweitmeisten Tore: Wales spielt erstmals seit 58 Jahren ein Turnier, ist vor dem EM-Halbfinale gegen Portugal aber furchtlos.

Von Ulrich Hartmann, Lyon

"Hen Wlad Fy Nhadau", singen die Fußballer aus Wales vor jedem Spiel. Die Hymne ist ein wehmütiges Loblied auf ihre Heimat: "Das alte Land meiner Väter." Für die drei Torschützen beim 3:1 im Viertelfinale gegen Belgien - Ashley Williams, Hal Robson-Kanu and Sam Vokes - stimmt die Zeile aber gar nicht. Sie müssten "Großväter" singen, denn ihre Eltern waren keine Waliser. Die drei wurden in England geboren und spielen erst seit ein paar Jahren für Wales, weil sie walisische Großeltern haben und weil sie vom walisischen Verband im Rahmen einer umfangreichen Ahnenforschung explizit abgeworben worden sind.

Neun der 23 walisischen EM-Spieler sind in England geboren und konvertierten fußballerisch ins Nachbarland. Dies betrübt die Engländer nach deren blamablem Achtelfinal-Aus gegen Island - aber noch etwas anderes: Wenn am 14. Juli die neue Weltrangliste erscheint, dann wird Wales (derzeit 26.) England (derzeit 11.) überholt haben. Da ist es den Walisern sogar egal, dass sie abseits ihrer vier Siege bloß gegen England eine Niederlage hinnehmen mussten.

Keine Mannschaft hat bei dieser EM häufiger gewonnen als Wales. Sie haben jetzt nicht mal mehr Furcht vor Portugal mit Cristiano Ronaldo und Renato Sanches und fühlen sich stark genug, um den Portugiesen im Halbfinale einen offenen Kampf zu liefern. Im Falle eines Sieges springen sie in der Weltrangliste sogar auf den sechsten Platz - vor Spanien, Brasilien und Italien. Vor vier Jahren standen sie noch auf Rang 117. Das erscheint ihnen aber schon so lange her, als wäre Wales damals noch das alte Land ihrer Großväter gewesen.

Bale leidet für Ramsey

Mit zehn Treffern sind die Waliser die zweiteffektivste Mannschaft nach Frankreich (elf Tore). Mit ihren vier Siegen haben sie den Portugiesen (sechs Tore) eine gewisse Zielstrebigkeit voraus. Die Südeuropäer haben in ihren fünf Partien nach regulärer Spielzeit fünf Mal Unentschieden gespielt. Verzichten müssen die Waliser an diesem Mittwoch aber auf Aaron Ramsey, den Mittelfeldspieler vom FC Arsenal und neben Gareth Bale ihr bisher bester Mann.

Während Bale drei Tore geschossen und eines vorbereitet hat, traf Ramsey ein Mal und assistierte in vier Fällen. Dass er gegen Portugal nach zwei gelben Karten genauso wie Abwehrmann Ben Davies gesperrt ist, findet Bale "entsetzlich". Er kritisiert die Regel und fürchtet, dass Ramsey das womöglich letzte Turnierspiel und somit das bedeutsamste walisische Länderspiel der Geschichte versäumt. 58 Jahre lang hatten sie kein Turnier gespielt - das waren 28 Welt- und Europameisterschaften ohne Wales.

EM-Halbfinale steht der Hochzeit im Weg

"Aaron ist bislang einer der besten Spieler dieser EM", behauptet der Trainer Chris Coleman. Es ist schwierig, wenn man im wichtigsten Spiel seinen wichtigsten Spieler ersetzen muss, aber die Spiel- und Gegneranalyse-Software "Globall Coach" wird Coleman schon Alternativen anbieten. Seit sie dieses Computer-Programm nutzen, sagen die Waliser selbst, sei ihre Siegquote um 25 Prozent gestiegen. Sie haben offenbar keine Furcht vor Nachahmern und davor, dass Spiele irgendwann von einer Software entschieden werden, weil alle Mannschaften dieselbe benutzen.

Aber die Waliser machen sich nicht zu viele Gedanken über die anderen. "Wir genießen es, mit dieser Mannschaft zusammen zu sein", sagte Coleman am Mittwoch noch einmal, als er erklären sollte, wie dieser Erfolg zu erklären ist. Er soll ja seit Tagen nichts anderes erklären als dieses Fußballwunder, und am liebsten benutzt er dazu die Vokabel "Teamspirit". Das Ende des Turniers, formulierte Coleman allerdings auch schon mal vorsichtshalber, bedeutete nicht das Ende dieser Mannschaft und ihrer Entwicklung. "Es geht weiter danach", formuliert er für all jene Fans und die Menschen daheim, die fürchten, sie müssten im Falle einer Niederlage aus einem schönen Traum aufwachen.

Gelächter erntete am Tag vor dem Halbfinale der Vorschlag eines belgischen Reporters, Coleman möge doch bitte die belgische Mannschaft übernehmen. Vor wenigen Tagen hatte Coleman bereits abgelehnt, englischer Coach zu werden, und genauso zeigt er sich auch an Belgien nicht sonderlich interessiert. "Ich trainiere schon die beste Mannschaft, die ich mir vorstellen kann."

Der Erfolg der mit drei Millionen Einwohnern kleinsten im Turnier verbliebenen Nation findet aber auch Opfer. Ruby May Ridgeway hätte Samstag gern den Vater ihrer Kinder, Joe Ledley, geheiratet. Die Hochzeit auf Ibiza war lange geplant und ist nun verschoben. Nach dem 3:1 gegen Belgien, dem bislang fröhlichsten Tag des walisischen Fußballs, twitterte sie: "Ich stehe unter Schock."

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