Wahrscheinlich fühlten sich viele Ungarn am Sonntagabend wie Kevin Csoboth. Der Angreifer von Ujpest Budapest hielt nach seinem Siegtor in allerletzter Minute gegen Schottland das Trikot seines Teamkollegen Barnabas Varga hoch. Varga hatte zuvor auf dem Spielfeld notversorgt werden müssen. Die Geste ließ niemanden unberührt im Stadion, weder die beiden Fanlager – noch Csoboth selbst: Der kniete bald überwältigt auf dem Rasen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Auch seine Mitspieler und Trainer Marco Rossi kämpften mit den Emotionen. Gemeinsam versuchten sie, ihre Gefühlslage zu sortieren. Sie versammelten sich für ein Foto, auf dem nicht das 1:0 und die Hoffnung auf das Weiterkommen ins Achtelfinale im Mittelpunkt stand, sondern einzig Vargas Gesundheit.
In der 68. Spielminute war Varga, der bei Ungarns Dauermeister Ferencvaros Budapest angestellt ist, nach einer Freistoßflanke mit Schottlands Torwart Angus Gunn kollidiert. Dabei war er bereits so unglücklich mit dem Schotten Grant Hanley verkeilt, dass sich sein Körper beim Absprung zum Kopfball in der Luft verdreht hatte. Varga flog gewissermaßen rücklings mit dem Kopf voraus über Hanleys Rücken, sein Kopf schlug mit Wucht gegen Gunns linken Oberarm, er verkrampfte, nach dem Aufprall blieb er reglos liegen und bekam kaum Luft. Die Spieler schlugen Alarm und riefen die Sanitäter herbei. Minutenlang wurde Varga hinter aufgespannten Decken behandelt, ehe er auf der Trage Richtung Krankenhaus transportiert werden konnte.
Die Szenen erinnern an den Herzstillstand von Christian Eriksen
Die schockierenden Szenen erinnerten an den Herzstillstand von Christian Eriksen bei der EM 2021. Der Däne war während eines Vorrundenspiels zusammengebrochen und musste reanimiert werden. Lange Zeit war nicht klar gewesen, ob Eriksen überleben würde. Diesmal gab es zumindest zügig Entwarnung. Varga sei bei Bewusstsein, bestätigte Trainer Rossi nach Abpfiff. Ungarns Verband präzisierte später, Varga habe eine Gehirnerschütterung und mehrere Gesichtsbrüche erlitten und müsse operiert werden. Der 29-Jährige blieb in einem Krankenhaus in Stuttgart, am Montag wurde er operiert und fällt für den Rest der EM natürlich aus – sofern Ungarn als einer der vier besten Gruppendritten das Achtelfinale erreicht.
Zu den vagen sportlichen Aussichten äußerte sich nach der Begegnung kaum jemand. Ungarns Kapitän Dominik Szoboszlai war noch immer schockiert, er hatte als einer der Ersten die Tragweite der Situation erfasst. Als die Hilfskräfte aus seiner Sicht die Trage nicht schnell genug herbeibrachten, rannte er ihnen entgegen und unterstützte sie. Später kritisierte er, die Abläufe müssten „viel schneller“ werden. Viele ungarische Fans waren ebenfalls unruhig und nervös, weil sich die Situation direkt vor ihren Augen abspielte.
Die europäische Fußball-Union wies Vorhaltungen am Montag zurück, die „Koordination zwischen dem gesamten medizinischen Personal vor Ort“ sei professionell und „in Übereinstimmung mit den geltenden medizinischen Verfahren“ erfolgt, hieß es in einer Mitteilung der Uefa: „Es gab keine Verzögerungen bei der Behandlung und Betreuung des Spielers.“
Am Sonntag hatte es gewirkt, als sei sich das medizinische Personal am Spielfeldrand zunächst unsicher gewesen, ob es den Platz betreten dürfe. Aus der Ferne ist die Dringlichkeit einer Behandlung allerdings auch fast unmöglich einzuschätzen – erst recht, da Spieler manchmal auch eine Verletzung überzeichnen, um das Match zu verschleppen und dem Gegner Schwung zu nehmen. Auch Trainer halten Teamärzte ja bisweilen dazu an, zunächst einmal abzuwarten, bis sich die Situation besser einschätzen lässt. Das Protokoll sieht nämlich vor, dass ein Spieler nach einer Behandlung zwingend den Platz verlassen muss und erst auf Zeichen des Schiedsrichters zurückkehren darf. Dadurch kann ein Team in einer entscheidenden Phase für wichtige Sekunden in Unterzahl geraten.
Umso wichtiger war die Handlungsschnelligkeit der umstehenden Spieler und die rasche Erstversorgung, bis die Ärzte und Sanitäter von draußen ankamen und übernahmen. Die Ungarn machten das beeindruckend vor: Sie brachten Varga umgehend in eine stabile Seitenlage, damit seine Atemwege freiblieben und er nicht ersticken konnte. Nach dem Zwischenfall wurde das Match fortgesetzt – die Spieler dürften da bereits geahnt haben, dass ihr Teamkollege außer Lebensgefahr war.
Für Varga war die EM die erste Turnierteilnahme überhaupt. Er gilt in Ungarn als Spätstarter. Die Anfangszeit seiner Karriere verbrachte er bei unterklassigen österreichischen Vereinen, bis er 2020 in seine Heimat zurückkehrte. Der Durchbruch gelang ihm in der Saison 2022/23 beim FC Paks, als er auf Anhieb ungarischer Torschützenkönig wurde. Dies weckte das Interesse von Ferencvaros, wo er seinen Status als bester Goalgetter in der vergangenen Spielzeit erfolgreich verteidigen konnte. Seine Torquoten brachten ihm im März 2023 das Debüt in der Nationalelf ein. Zum EM-Auftakt gelang ihm der Anschlusstreffer gegen die Schweiz.
Die Aufgewühltheit der Spieler rund um den Unfall übertrug sich auf die Schlussphase des Spiels. Sowohl Ungarn als auch Schottland mussten gewinnen, um sich eine kleine Möglichkeit auf die nächste Runde zu bewahren. Dabei agierten die Ungarn cleverer, sie behielten ihre Defensivstruktur bei und setzten auf Konter. Das entscheidende Tor in der zehnten Minute der Nachspielzeit entstand aus einem Eckball der Schotten.
Nach dem Spiel verharrten die Ungarn noch lange mit ihren Fans im Stadion, um die Geschehnisse aufzuarbeiten. Ihre Freude entsprang vor allem der riesigen Erleichterung, dass die Sache mit Barnabas Varga einigermaßen glimpflich ausgegangen war. Die Spieler hatten insbesondere für ihn gewinnen wollen – um ihm später das Siegerfoto mit seinem Trikot präsentieren zu können.