Und dann stand Vincenzo Montella vor der Tribüne und heizte die Menge an. Er führte den Zeigefinger an den Mund, Ruhe bitte, doch die Geste verfing nur kurz. Er breitete die Arme aus, ein etabliertes Ritual ist das, mit jedem Zentimeter Spannweite wurde die Lautstärke ein wenig mehr aufgedreht. Und dann schwang Montella die Arme durch, wie bei Schlägen auf eine imaginäre Trommel: Zehntausende Kehlen ließen alles raus, was so an Emotionen vorrätig war, und dieser Vorrat ist bei türkischen Fußballfans bekanntlich unerschöpflich.
Montella kostete den Moment voll aus, mit dem Gestus eines Großgestalters. Wie ein Dirigent, der sein musizierendes Ensemble zu einer glanzvollen Darbietung angeleitet hat und nun den Beifall der Menge inhaliert. Begeisterung kann süchtig machen. Und die tosende Begeisterung türkischer Fußballfans erst recht. Sie hatten das Hamburger Volksparkstadion wieder zahlreich bevölkert. Sie waren laut. Sehr laut. Und sie erwiderten Montellas Liebesbekundungen, weil er ihnen am Mittwoch geliefert hatte, was sie sich erwartet hatten: Einen 2:1-Sieg gegen Tschechien und somit den Einzug ins EM-Achtelfinale. Minimalanforderung erfüllt.
Mehr aber auch nicht.
„Ich freue mich sehr für unsere Nation, für unsere Spieler, für unser Volk“, erklärte der Italiener Montella mit Pathos in der Stimme. Klang so, als habe die Integration in diesen aus seiner Sicht fremden, zweifellos komplizierten Fußballkulturkreis reibungslos geklappt. Türkische Fans können Spieler und Fans mit Zuneigung überschütten, sie nehmen Auswärtige in eine emotionale Obhut, in der es sich wohlig-warm anfühlt, dass jeder Fluchtversuch daraus zwecklos wäre. Man würde es ja doch nicht schaffen.
Vor allem bei den großen Istanbuler Klubs Galatasaray und Fenerbahce haben einige Fußballeinwanderer längst einen ikonischen Rang erlangt, der Rumäne Gheorghe Hagi und der Brasilianer Alex de Souza etwa. Sollten beide sich mal um einen türkischen Pass bemühen und in der Behörde auf einen Fan ihres jeweiligen Ex-Klubs treffen, würde sich das locker regeln lassen. Für türkische Fans sind Hagi und „Alex“ ohnehin längst Türken; wo sie auftauchen, wird über ihnen eimerweise Liebe ausgeschüttet.
Bei Nationaltrainern ist die Sache traditionell deutlich komplizierter. Auch Montella, 50, hatte dies zuletzt zu spüren bekommen.
Schiedsrichter Kovacs zeigte 18 Karten – ein EM-Rekord
In der Heimat wird vom türkischen Nationalteam erwartet, dass es rauschhaften Fußball spielt und hoch gewinnt, da gibt es keine Kompromisse. So gesehen hat Montella bislang nur sporadisch abgeliefert. „Man kann keinen Spieler finden, der nicht bis zum Schluss gekämpft hat“, sagte er am Mittwoch – eine zutreffende Beobachtung. Leidenschaft, Wille, Widerspenstigkeit, so lautet der Dreiklang des türkischen Spiels. Die Türken reduzieren ihren Fußball auf gelegentlich aufblitzendes Talent und aufopferungsvollen Kampf, doch dahinter verbirgt sich keine tiefere Ebene, fast alles wirkt improvisiert. Für die Treffer gegen die Tschechen brauchte es zwei raffinierte Präzisionsschüsse aus dem Halbraum, abgefeuert wurden sie von Kapitän Hakan Calhanoglu (52. Minute) und von Cenk Tosun nach einem Konter in der Nachspielzeit. Der Rest des Abends war, nun ja: resolut.
18 Karten hat Schiedsrichter Istvan Kovacs den beiden Teams gezeigt, ein neuer Spitzenwert bei einer EM, darunter war auch ein Platzverweis für den Tschechen Antonin Barak nach 20 Minuten – so schnell hatte bei einem Kontinentalturnier zuvor noch keiner Gelb-Rot gesehen. Kovacs schien sich zu gefallen in der Rolle des unerbittlichen Vollzugsbeamten, bei dem sich das Geschehen verdichtet, ein Auftritt in breitbeiniger Pose war das. Und dann war er beim Strafmaß nicht mal konsequent: Angreifer Kenan Yildiz fabrizierte einen Knöcheltritt und einen Ellenbogenhieb, bei ihm blieb es bei Gelb und einer mündlichen Rüge, obschon ein vorzeitiger Kabinenaufenthalt auch da angezeigt gewesen wäre. So ergab sich ein Spiel wie ein Fransenteppich: Überall Chaos und Anarchie, je länger das Spiel ging, desto schonungsloser wurden Nahduelle geführt, die Grenze des Erlaubten wurde immer weiter ausgedehnt.
Den Türken jedenfalls kam das gelegen, ihnen reichte zum Weiterkommen ein Remis, womöglich war dieses Durcheinander also Teil des Plans. Das jedoch wäre die wohlwollendste aller Deutungen. Die anderen sind aus türkischer Sicht weniger erbaulich: Womöglich sind die Türken angewiesen auf Improvisationsfußball, weil es Montella, seit neun Monaten erst im Amt, noch nicht geschafft hat, seine Spieler mit Routinen auszustatten. Womöglich – das wäre die misslichste Deutung – sind die Spiele aber auch ein Ausdruck dessen, was zuletzt so los war bei den Türken.
Kapitän Calhanoglu wird im Achtelfinale gegen Österreich fehlen
Coach Montella sah sich zuletzt massiver Kritik ausgesetzt, so weit, so normal. Wenn es aber um ihre Hochbegabten geht, verstehen die türkischen Fans noch weniger Spaß als ohnehin. Und der Begabteste der türkischen Fußballer ist nach allgemeinem Dafürhalten der 19-jährige Arda Güler, ein Angreifer, der eine so anmutige Ballgewandtheit hat, dass ihm in Zukunft alles zugetraut werden muss. Und in der Praxis auch wird: Güler spielt bei Real Madrid. Bei Montella ist er zuvor beim 0:3 gegen Portugal allerdings nicht von Beginn an aufgelaufen, türkische Medien und Fans witterten hinter dieser Nichtberücksichtigung entweder Inkompetenz, Mobbing oder eine Verschwörung.
Montella erklärte, Güler sei einfach müde gewesen, gegen die Tschechen bot er ihn wieder auf. Es war ein gewinnbringender Entschluss: Güler war stets beteiligt, wenn die Türken mal Druck erzeugten, wenn zumindest für einen Augenblick so etwas wie Spieltrieb aufblitzte. Die Autorität des Trainers scheint aber so angekratzt zu sein, dass sich der türkische Verband zu einem Kommuniqué bemüßigt sah, in dem die Rede von einer „böswilligen und schmutzigen Kampagne“ die Rede ist.
Mehr Aufregung geht kaum, doch es gibt ein wirkungsvolles Gegenmittel: Siege, möglichst viele und möglichst überzeugend. Fehlen wird den Türken nun aber Kapitän Calhanoglu, er war einer der 18 Gelbsünder des Abends und muss wegen einer Sperre aussetzen. Dabei ist Calhanoglu einer, der bei den Türken das Wirrwarr auf dem Rasen entflechten kann – und allein Wirrwarr wird im Achtelfinale am Dienstag gegen Österreich kaum reichen.