Der Mittelfeldmann Salih Özcan hat bereits einige Heimspiele im Dortmunder Stadion erlebt, alles Routine, die Kulisse kann ihn eigentlich nicht mehr beeindrucken. Ein Heimspiel als beeindruckendes Naturschauspiel dürfte dennoch neu für den BVB-Akteur gewesen sein. Ein ungewohnter Anblick war für ihn wahrscheinlich die Südtribüne, die sich wegen eines Wolkenbruchs in eine Art Wasserfall verwandelt hatte; der Regen war vor dem Anpfiff nur so vom Stadiondach heruntergeströmt und musste von fleißigen Ordnern in die Kanalisation geschrubbt werden.
Und dann waren da natürlich noch die türkischen Fans, gekleidet in der Nationalfarbe Rot und mit gewaltiger Kraft in den Kehlen: So hat Özcan das Dortmunder Stadion sicher noch nie erlebt, die Dezibelstärke dürfte Höhen erreicht haben, wie das selbst das stimmungsvolle BVB-Publikum nur selten hinbekommt. „Wir werden diese Flagge ehren bis zum Ende“, hatte Vincenzo Montella angekündigt, der italienische Trainer des türkischen Nationalteams. Und ja, der Auftritt am Dienstag gegen die Georgier war phasenweise aller Ehren wert: 3:1 gewannen die Türken gegen Georgien, ein wichtiger Sieg zum Auftakt.

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Salih Özcan, der Hausherr aus Dortmund, nahm von Beginn an jedoch einen Platz ein, den er zuletzt auch in seinem Klub zumeist besetzt hat: einen Platz auf der Ersatzbank. An seiner Stelle bot Montella Kaan Ayhan im Zentralraum des Mittelfelds auf, als Hilfsarbeiter für Kapitän Hakan Calhanoglu von Inter Mailand, den unangefochtenen Star im Team. Auf ihn würde es ankommen, das war vor Turnierbeginn klar gewesen. Doch natürlich wussten auch die Georgier darüber Bescheid, sie liefen ihn aggressiv an, wollten dem türkischen Räderwerk auf diese Weise etwas Gewichtiges in die Speichen werfen – und zugleich auf die Momente ihres großen Einzelkönners hoffen: Auf Chwitscha Kwarazchelia, filigraner Wirbelwind bei der SSC Napoli, in Italien nennen sie ihn „Kvaradona“.
Mert Müldür trifft herrlich per Volley zur Führung
Doch es müssen nicht immer die schillernden Namen sein, die Spielen die entscheidende Wendung verpassen, die erste Halbzeit diente dafür als Beleg. Angetrieben von der Kraft der Massen war es zunächst Mittelfeldmann Ayhan, der einen Flachschuss an den Pfosten setzte; kurz darauf schoss Georgiens Ansor Mekwabischwili nur knapp vorbei. Das Spiel hatte Feuer gefangen, und die schätzungsweise 50 000 türkischen Anhänger im Stadion taten ihr Übriges: Gellende Pfiffe bei Ballkontakten des Gegners, dazu ohrenbetäubende Choräle und eine Kaskade der Emotionen. Und das Treiben auf den Tribünen schien zunächst Auftrieb zu geben: Mert Müldür traf per Volleyschuss zum 1:0, ein herrlicher Treffer war das (25. Minute).
Es kann aber auch eine Bürde sein: Nach der Führung wirkten die Türken mitunter zerstreut, sie kamen nicht recht in ihre Abläufe, das Angriffsspiel wirkte improvisiert. Und die Georgier nutzten das: Giorgi Mikautadse drückte einen Querpass zum 1:1-Ausgleich über die Linie, kurz darauf hätte der Stürmer fast erneut getroffen. Die Türken wurden mit vereinzelten Pfiffen in die Pause entlassen. Doch nachdem sie wieder aus den Katakomben herausgetreten waren, war der zarte Unmut wie weggeblasen; die Montella-Elf fand besser in ihr Konzept, ihr Spiel wurde ruhiger und strukturiert, ganz gleich ob mit oder ohne Ball. Mit Ball jedenfalls kann Angreifer Arda Güler einiges anstellen, das hat er gegen die Georgier abermals unter Beweis gestellt. Güler, 19, spielt seit einem Jahr bei Real Madrid; auch wegen Aktionen wie in der 66. Minute haben sie ihn zum königlichen Talent gemacht: 20 Meter vor dem Tor legte er sich den Ball auf seinen starken linken Fuß, er schlenzte ihn eindrucksvoll in den linken oberen Winkel. 2:1 für die Türken, Georgiens Torwart Giorgi Mamardaschwili war zum zweiten Mal ohne jede Abwehrchance.
Die Georgier hörten nicht auf, sich zu wehren, mit viel Leidenschaft setzten sie in der Schlussphase noch mal alles entgegen, was sie hatten – und hätten bei einem Lattenschuss und einer weiteren Riesenchance beinahe den Ausgleich erzielt. Doch die gar nicht so heimliche Heimelf, die Türken, hatten Glück. Und in der siebten Minute der Nachspielzeit traf Kerem Aktürkoglu noch zum 3:1, das Dortmunder Stadion erbebte. Fast wie bei einem Naturschauspiel eben.