Türkische Mannschaft feiert:Der Mut zum Wandel wird belohnt

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Hinein ins Tor-Glück: Hakan Calhanoglu (rechts) erzielt in der 51. Minute die Führung für die Türkei. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Die Türkei besiegt Tschechien 2:1 und trifft im Achtelfinale auf Österreich. Vor allem für Trainer Vincenzo Montella dürfte der Erfolg eine Genugtuung sein – der Italiener stand massiv in der Kritik.

Von Thomas Hürner, Hamburg

Das Hamburger Volksparkstadion hat Vincenzo Montella am Mittwoch in drei Posen erlebt. Die erste Pose sah verschränkte Arme und einen kritischen Blick aufs Geschehen vor. Bei der zweiten Pose legte der Nationalcoach der Türkei die Hand ans Kinn und schaute nachdenklich auf den Rasen, wobei auch der traumhafte Sonnenuntergang im Hintergrund einen Blick wert gewesen wäre. Pose Nummer drei war eine Art wildes Rumgestampfe, noch dazu mit großer Gestik, wedelnden Armen und nicht selten inklusive eines Überschreitens des Erlaubten – Montella ignorierte dann gern die Grenzen seiner Coach-Zone.

Als nach dem 2:1-Sieg gegen Tschechien der Schlusspfiff ertönte, hatte Montella sein Sakko ausgezogen und einem Spiel auf bescheidenem Niveau beigewohnt. Wenig ging bei den Türken, aber wenigstens geht es aus ihrer Sicht weiter: Sie treffen am Dienstag im Achtelfinale in Leipzig auf Österreich.

Sicher eine Genugtuung für Montella. Denn was war in den vergangenen Tagen nicht alles auf ihm herumgehackt worden, von türkischen Medien und Fans. Und sicher waren auch so manche Verschwörungstheoretiker darunter. Denn der Italiener hatte zuvor ein 0:3 und eine dürftige Mannschaftsleistung gegen Portugal zu verantworten, was alleine ja schon schlimm genug wäre. Doch bei diesem Spiel hatte auch Angreifer Arda Güler, der türkische Wunderjunge von Real Madrid, die meiste Zeit auf der Bank verbracht – gemeinsam mit Kenan Yildiz von Juventus Turn, dem anderen 19-jährigen Hoffnungsträger im Kader.

Zwischen Montella und Güler wurde danach ein angeblich zerbrochenes Binnenverhältnis diagnostiziert. Dem Trainer wurden Ängstlichkeit und Konzeptlosigkeit vorgeworfen. Und nicht zuletzt sogar Mobbing gegen Güler, nachdem ein Trainingsvideo aufgetaucht war, bei dem Montella dem Angreifer ein zuvor ausgehändigtes Leibchen abnahm. Viel Aufgeregtheit, viel Drama. Und das vor dem bislang wichtigsten Spiel der EM.

Antonin Barak erhält bereits in der 20. Minute die gelb-rote Karte

Nun, Güler spielte, Yildiz auch. Überhaupt hatte Montella nach dem Desaster gegen die Portugiesen sieben Veränderungen in der Startelf vorgenommen, die meisten davon ließen die Ambition vermuten, dass es gegen die Tschechen womöglich doch etwas zackiger nach vorn gehen könnte: Kapitän Hakan Calhanoglu wurde eine Linie nach vorne gerückt, vom Sechserraum in die Zone, in der sich klassische Zehner aufhalten – und das war, wie sich zeigen sollte, die wohl wirkungsvollste Personalmaßnahme von Montella an diesem Abend.

Vincenzo Montella (Mitte) wurden Ängstlichkeit und Konzeptlosigkeit vorgeworfen. Am Ende der Gruppenphase konnte er trotzdem Feiern. (Foto: Lisi Niesner/Reuters)

Sein Mut zum Wandel brachte allerdings keinen mutigen Offensivfußball hervor. Die Türken wirkten zunächst pomadig und desorientiert, womöglich hatten die vielen Wechsel die Automatismen erledigt, womöglich hatten sich latente Versagensängste in den Spielerköpfen breitgemacht. Und sie trafen in den Tschechen auf ein Team, das zum Weiterkommen siegen musste, dem aber die Mittel dafür fehlten – und das sich in der ersten Hälfte wegen eines fiesen Knöcheltritts von Mittelfeldmann Antonin Barak bereits in der 20. Minute selbst dezimierte: Gelb-Rot, richtige Entscheidung.

Für die Türken war die Überzahl offenbar das Signal, dass man es mit dem Risiko besser nicht übertreiben sollte. Expeditionen an den gegnerischen Strafraum wagten sie nur selten, und wenn, dann war zumeist der linke Fuß von Arda Güler im Spiel. Die beste Chance hatten trotzdem die Tschechen; nach einem Konter tauchte auf einmal David Jurasek frei stehend vor Türkei-Torwart Mert Günok auf, der konnte parieren. Viel fehlte aus türkischer Sicht nicht zum Unglück kurz vor dem Pausenpfiff. Und auch danach war Besserung höchstens in zarten Ansätzen zu erkennen. Die Türken schafften es nur sporadisch in die gefährlichen Zonen, doch als ihnen das mal in aussichtsreicher Position gelang, fanden sie dort wenigstens den richtigen Mann vor: Kapitän Calhanoglu bekam aus halblinker Position den Ball serviert und hämmerte ihn so akkurat ins rechte Eck, wie nur er das kann.

1:0, ein Mann mehr, damit sollte das doch erledigt sein? War es nicht: Die Tschechen merkten, dass sie kaum kritische Situationen überstehen mussten, und versuchten es mit dem Mut der Verzweiflung. Aber immerhin, mit Mut. Ein weiter Einwurf mündete in zahlreiche Schussversuche und landete schließlich bei Tomas Soucek, der den Ball zum 1:1 ins Netz drosch. In der Nachspielzeit machte Cenk Tosun per Rechtsschuss alles klar für die Montella-Elf.

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