Süddeutsche Zeitung

Fußball-EM:Spaniens Lethargie ist erschreckend

Fàbregas wirkt schwerfällig, Iniesta spielt Fehlpässe: Spanien verabschiedet sich blutleer von der EM. Endet mit dem 0:2 gegen Italien eine Ära?

Von Thomas Hummel, Saint-Denis

Nach etwa einer Viertelstunde kam Vicente del Bosque von seiner Ersatzbank nach vorne. Es fiel mit dem Moment zusammen, an dem der Platzregen über dem Pariser Vorort Saint-Denis aufgehört hatte, der Trainer stand am Seitenrand und tat vollständig trocken seinen Missmut darüber kund, was da auf dem Platz passierte. Man kann Del Bosque seinen zurückhaltenden, ruhigen Charakter nicht vorwerfen. Aber jetzt, im Stade de France, musste er den Vergleich mit seinem Kollegen Antonio Conte aushalten, und der ließ sich wie eine Blaupause auf das Spiel ihrer Mannschaften übertragen.

20 Meter neben dem Spanier stand ein vollständig nassgeregneter Conte, der im Anorak und mit Kappe trotz des Unwetters wie ein Derwisch seine Mannschaft antrieb. Die folgte mit enormem Einsatz, mit starken Zweikämpfen und taktischer Disziplin. Und die Spanier? Sahen lange Zeit so aus, als wollten sie nicht nass werden. Weder vom Regen noch vom Schweiß.

Ohne De Gea wäre ein Debakel möglich gewesen

0:2 hat der Titelverteidiger gegen Italien verloren. Nur ganz zum Schluss hatten sich die Spanier gegen das Aus im Achtelfinale gewehrt, wobei sie sich bei David De Gea bedanken mussten, überhaupt noch im Spiel gewesen zu sein. Der Torwart von Manchester United hielt so grandios, dass die überlegenen Italiener bis in die Nachspielzeit warten mussten, um das 2:0 zu erzielen. Ohne De Geas Taten wäre ein Debakel möglich gewesen. Dabei war Spanien von vielen Beobachtern als einer der Topfavoriten bei der EM gewettet worden.

"In der ersten Halbzeit waren wir ein bisschen schüchtern. Wir spielten nicht mutig genug", gab Del Bosque später zu. Das war noch höflich ausgedrückt. Sinnbildlich für die spanische Lethargie stand das 0:1, als nach De Geas starker Abwehr vier Männer im blauen Trikot heran sprangen, aber nur einer im weißen. Giorgio Chiellinis Tor war überfällig.

Gegen den herzhaften Gegner sahen die Spanier bisweilen aus, als hätten sie den Durchblick verloren. Cesc Fàbregas wirkte schwerfällig, Jordi Alba erlebte links hinten in der ersten Hälfte ein sportliches Desaster. Selbst der wundervolle Andrés Iniesta spielte seine Pässe in die Füße des Gegners. Hinten sahen Gerard Piqué und Sergio Ramos ihrem Gegenspieler Graziano Pellè zu, wie der fröhlich die langen Bälle ablegte. Und hatte man den Strategen Sergio Busquets je so verloren gesehen?

Der höfliche Del Bosque verteidigte sie alle: "Wir wollten wirklich das Beste machen, aber im Sport ist der Gegner manchmal besser." Er verwahrte sich dagegen, dass seine Spieler nicht mit der richtigen Einstellung auf den Platz gelaufen seien, nicht genug Erfolgshunger gezeigt hätten. Auch an der Fitness habe es nicht gelegen: "Schließlich haben wir am Ende versucht, noch den Ausgleich zu schaffen".

Erst als die Italiener müde werden, reicht es fast für den Ausgleich

Doch das Bemühen am Schluss wirkte alles andere als geplant. Zur Halbzeit hatte Del Bosque mit Aritz Aduriz den zweiten groß gewachsenen Stürmer neben Álvaro Morata gebracht. Das vorerst letzte Mal, dass eine spanische Mannschaft eine solche Brechstange auspackte, muss in der Kreidezeit des Fußballs gewesen sein. Als das nicht funktionierte, nahm Del Bosque Morata vom Platz und schickte den Dribbler Lucas Vázquez nach vorne. Dann verletzte sich Aduriz, es kam mit Pedro der nächste kleine Angreifer. Meint man es gut mit den Spaniern, könnte man sagen: Sie haben alles probiert. Als in der letzten Viertelstunde die Italiener müde wurden, hätte es fast noch gereicht für den unverdienten Ausgleich.

Ist das nun das Ende einer Ära? Zwischen 2008 und 2012 hatten die Spanier drei Turniere in Serie gewonnen. Das hatte vor ihnen niemand geschafft. Nun das zweite frühe Aus nach der Vorrunden-Pleite in Brasilien. Del Bosque wehrte sich gegen die Abgesänge, "wir haben gute Jugendakademien, die Klubs machen gute Arbeit, es wachsen weiter gute junge Spieler nach", erklärte er, aber: "Wir wissen auch, wie schwer es ist, ein Turnier zu gewinnen." Bei all den ruhigen, fast stoischen Ausführungen, wunderte es niemanden, dass der Trainer auch für einen feurigen Schluss nicht zu haben war. Rücktritt? Er müsse erst mit seinem Präsidenten sprechen, dann das Beste für den spanischen Fußball entscheiden. Schließlich gehe es bald los in der Qualifikation für die WM 2018. Ein Gruppengegner ist: Italien.

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SZ vom 28.06.2016/tbr
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