Morata oder Moreno:Spanien stellt die Stürmerfrage

Spanien - Schweden

Kam nach seiner Einwechslung zu guten Chancen: Spaniens Gerard Moreno

(Foto: Jose Manuel Vidal/dpa)

Angreifer Álvaro Morata bekommt beim dürren 0:0 gegen Schweden viel Kritik ab. Gegen Polen könnte nun Gerard Moreno in der Startelf stehen. Und viele fragen: Warum erst dann?

Von Javier Cáceres

Die Pfiffe wirkten nach. Im Gesicht von Álvaro Morata zeichneten sich, als er nach 66 Minuten ausgewechselt wurde, die Gedanken so deutlich ab wie die Linien in einem Gemälde von Piet Mondrian. Trainer Luis Enrique eilte zu Morata und verließ die Coaching-Zone, um dem Stürmer die Hand entgegenzustrecken. Doch das war kein Trost. Denn die Strafe, sie wog doppelt und dreifach.

Es gibt kein Publikum in Spanien, das der Nationalelf des Königreichs treuer ergeben ist als die Fans in Sevilla. Einige der größten Wunder der spanischen Fußballgeschichte wurden am Ufer des Guadalquivir geschrieben, weil sich die Anhänger der verfeindeten Stadtklubs - Betis und FC Sevilla - in chauvinistischen Nationalgefühlen einig sind. Zwei klare, vergebene Chancen aber reichten am Montagabend, um aus Morata, 28, in Sevilla einen Schurken zu machen. Den Schurken, der dafür verantwortlich gemacht wurde, dass Spanien im ersten Spiel der Gruppe E gegen ultradefensive Schweden nicht über ein 0:0 hinauskam.

Gäbe es nicht die Erinnerung an die glorreiche WM 2010 in Südafrika, die Spanier wären vermutlich in der Nacht zum Dienstag dem Defätismus verfallen. Damals verloren sie zum Start sogar, 0:1 gegen die Schweiz des Trainers Ottmar Hitzfeld - am Ende wurden sie Weltmeister. Auch damals, man vergisst das leicht, waren sie knapp bei Kasse - sofern man Tore als die wichtigste Devise im Fußball ansieht. Ein 2:0 im Vorrundenspiel gegen Honduras war der höchste Sieg auf dem Weg zum WM-Pokal, darüber hinaus lieferten die hochgefeierten Spanier damals außer einem 2:1 gegen Chile ausschließlich 1:0-Siege ab.

Nur: 2010 gab es einen gewissen David Villa im Sturmzentrum. Und eben nicht Álvaro Morata, der einen Ruf genießt, der mittlerweile überrascht. Er ist ein guter Stürmer, fürwahr. Aber: ein Torjäger?

Fast hätten die Schweden sogar gewonnen - Isak und Berg vergeben zwei große Chancen

Seit seinem Debüt im Dezember 2010 war seine größte Liga-Trefferausbeute in der Saison 2016/17 zu bestaunen: Damals erzielte er vergleichsweise mickrig anmutende 15 Tore für Real Madrid. In der Nationalmannschaft lief es vergleichsweise gut für Morata, in 41 Länderspielen kam er auf immerhin 19 Treffer. Und dennoch war kaum zu verstehen, dass Luis Enrique, 51, gegen Schweden ausgerechnet Morata aufbot. Gerard Moreno, den derzeit besten für Spanien spielberechtigten Stürmer, der in La Liga aufzutreiben ist, ließ der Trainer bis zur 74. Minute warten, ehe er ihn eingewechselte. "Mit Morata, Null zu Null", schrieb die Diario de Sevilla am Mittwoch; "No goal, no party", titelte die ebenfalls in Andalusien ansässige Sportzeitung Estadio.

Wobei null Party für die Schweden nicht galt. Sie fuhren mit dem denkbar geringsten Aufwand ein Unentschieden ein und holten damit exakt die angestrebte Rendite. Mehr noch: Sie hätten sogar fast gewonnen. Ein Schuss des bestechenden Angreifers Alexander Isak (Real Sociedad San Sebastián) landete als Abpraller am Pfosten, Marcus Berg vergab in der zweiten Halbzeit allein vorm leeren spanischen Tor. Ein 0:1 wäre aus spanischer Sicht eine überbordend grausame Pointe gewesen.

Denn der Favorit wusste in der ersten Halbzeit bei vergleichsweise gemächlichem Tempo zu gefallen. Spanien monopolisierte den Ball, am Ende wurde ein Wert von 85,1 Prozent ermittelt, der einen EM-Rekord darstellt, seit Beginn solcher Datenerhebung im Jahr 1980. Sechs Spanier spielten jeweils mehr als 100 erfolgreiche Pässe: der gerade eingebürgerte Aymeric Laporte (Manchester City/119), der jüngste spanische Turnierspieler der Geschichte, Pedri (FC Barcelona/118), der Verteidiger Pau Torres (FC Villarreal/113), der überragenden Koke (Atlético Madrid/109), Aushilfskapitän Jordi Alba (FC Barcelona/107) und Marcos Llorente (Atlético Madrid/104).

Zum Vergleich: Die Schweden kamen auf 103 erfolgreiche Pässe, Einwechselspieler inklusive.

Der spanische Ballbesitz war nicht ganz so stumpf wie noch im Achtelfinale in Russland, die Gastgeber erspielten sich durchaus gute Chancen. Die besten vergaben der insgesamt überzeugende Dani Olmo (RB Leipzig), der am grandiosen schwedischen Keeper Robin Olsen scheiterte, Koke und die eingewechselten Gerard Moreno und Pablo Sarabia. "Mir hat gefallen, was ich gesehen habe", sagte Trainer Luis Enrique nach der Partie. Er bemängelte die ausgebliebene Verwertung der Torgelegenheiten ("man muss die Chancen materialisieren"), und sein Kommentar zu den Pfiffen gegen Morata fiel gleichmütig aus: Wenn ein Stürmer eine klare Chance vergebe, wie Morata in der ersten Halbzeit, "gibt es immer runrun", so Luis Enrique, Gemurmel auf den Rängen also. Aber: Morata wisse damit umzugehen.

Moreno blickt auf die beste Saison seiner Karriere zurück

Dass er ihn vergleichsweise spät auswechselte, war ein Akt der Milde, aus psychologischen Gründen. Jede andere Entscheidung hätte gewirkt wie eine Abstrafung, und Luis Enrique wird Morata vielleicht noch brauchen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass Morata am Samstag gegen Polen wieder auflaufe. Aber die Tendenz geht dahin, dass der Coach für das zweite Spiel umstellt und eben doch Gerard Moreno für Morata bringt. Oder lässt er sogar beide zusammen stürmen? Morata hat seine Vorzüge, er ist ein guter Pressingspieler, ein emsiger, laufstarker Balleroberer an vorderster Front. Moreno hingegen ist ein feinerer Fußballer - und er blickt auf die beste Saison seiner Karriere zurück.

Moreno griff mit seinen Toren den "Premio Zarra" ab, die Auszeichnung des besten spanischen Liga-Schützen, nur der Argentinier Messi traf diese Saison mit 30 Toren häufiger als Moreno (23). Zudem wurde Moreno in Danzig mit Villarreal Europa-League-Sieger und -Torschützenkönig. Womöglich ist er tatsächlich dazu berufen, die anhaltende Dürre der Spanier vor dem Tor zu überwinden.

Die andere Dürre, die auf dem erkennbar trockenen Platz zu sehen war, wollen die Platzwarte in Sevilla bis zum Wochenende in den Griff kriegen. "Ich kreuze meine Finger", sagte Luis Enrique dazu.

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