Die Partie war vorüber, Luis de la Fuente hatte das Etappenziel EM-Auftaktsieg mit Bravour erreicht – 3:0-Sieg gegen Kroatien –, doch dem Coach der Spanier war nicht nach Selbstbeweihräucherung. Sondern danach, Dank zu üben. Der 62-Jährige ließ seinen Trainer- und Betreuerstab aufmarschieren und bat alle, am Spielfeldrand ein Spalier zu bilden. Die Spieler kehrten aus der Westkurve zurück, wo sie den Fans applaudiert hatten, und gingen also auf dem Weg in die Kabine durch die Gasse, die ihnen ihre Vorgesetzten gebildet hatten. „Natürlich ist man zufrieden“, sollte de la Fuente später sagen. „Aber das Verdienst gebührt den Spielern. Sie haben das Spiel großartig gelesen. Ich bin stolz auf sie.“
Das hätten die Spieler wohl in ähnlicher Form zurückgegeben. De la Fuente war nach der für Spanien so enttäuschenden Weltmeisterschaft in Katar (Achtelfinal-Aus gegen Marokko nach Elfmeterschießen) zum Trainer der A-Mannschaft befördert worden und hatte bei Amtsantritt einen klaren Auftrag bekommen: das Spiel der spanischen Elf entscheidend zu verändern. Gegen Marokko war Spanien nicht zum ersten Mal im eigenen Ballbesitz ersoffen, hatte „Scheibenwischer-Fußball“ geboten, wie er in Spanien verspottet wurde, das heißt: den Ball von links nach rechts, aber nie ins Tor geschoben. Und war früh nach Hause gefahren.
Die fast schon vertraglich fixierte Maßgabe des Verbandes an den vormaligen Nachwuchstrainer de la Fuente hieß: Vertikalität fördern, das obsolete Wischiwaschi beenden, Tore fabrizieren. In den vergangenen Partien hatte Spaniens Nationalteam in dieser Hinsicht bereits Fortschritte nachgewiesen, doch es ging nie so weit wie am Samstag in Berlin gegen die Kroaten.
„Spanien ist plötzlich eine Furie“, schrieb „La Gazzetta dello Sport“
Zum ersten Mal seit einem Freundschaftsspiel gegen Deutschland in Vigo (0:1, Tor durch Toni Kroos) hatten die Spanier weniger Ballbesitz als ein Gegner, eine Serie von 111 Spielen war damit beendet. Und wer sich nur auf die Pflichtspiele konzentrieren wollte, musste im Archiv gar noch länger zurückspulen, 136 Partien bis zur EM des Jahres 2008, dem Geburtsjahr der „Goldenen Generation“. Aber: Am Samstag gewannen die Spanier die Partie. „Der Nächste, bitte!“, schienen sie am Ende zu rufen, es wird laut Spielplan Italien sein, am Donnerstag in Gelsenkirchen. Im Lager der Italiener hat man die Botschaft verstanden: „Spanien ist plötzlich eine Furie“, schrieb La Gazzetta dello Sport.
Nicht, dass es die Spanier darauf angelegt hätten, den Kroaten den Ball zu überlassen. „Wir haben weiterhin gern den Ball!“, beteuerte der Andalusier Fabián, der wegen seines Passes in die Spitze vor dem 1:0 durch Álvaro Morata (29. Minute), seines nur wenige Minuten später folgenden Traumtors zum 2:0 (32.) und eines insgesamt beeindruckenden Vortrags zum wertvollsten Spieler der Partie gewählt worden war. Sein Tor war das, was man eine Augenweide nennt: Er ließ mit einem Absatzkick Luka Modric, nun ja, alt aussehen, ließ mit einer weiteren Körpertäuschung den herbeigeeilten Marcelo Brozovic aussteigen – und schoss mit links aus 14 Metern ein. „Hieße er nicht Fabián (sondern Fabinho), würdet ihr nicht mehr aufhören, von ihm zu reden“, sagte de la Fuente. „Er hat alles.“

Zumindest stand der Mittelfeldspieler von Paris Saint-Germain am Samstag stellvertretend für eine Mannschaft, die nicht in Selbstzweifel verfiel, als Kroatien tatsächlich (etwas) mehr Ballbesitz hatte. Die Statistik wies 52:48 Prozent aus. Ein Stilbruch? Das wäre wohl eine Spur zu dick aufgetragen. Eine Abkehr vom unausgesprochenen Dogma war es allemal. Sie hatte sich schon am Vorabend angedeutet.
„Ich habe keine Ahnung von Stilen“, hatte Mittelfeldlenker Rodri vor dem Spiel gesagt, „der Stil, der zählt, ist der, der dich zum Sieg bringt.“ Ausgerechnet Rodri, der bei Manchester City unter dem als Ballbesitzguru apostrophierten Pep Guardiola spielt? Ausgerechnet Rodri. Er war es auch gewesen, der Entschlossenheit in beiden Strafräumen bestellt hatte – und sie am Samstag sah. Hüben wie drüben.
Die Spanier freuen sich auch über den Auftritt von Lamine Yamal
Zum Beispiel bei den Chancen der Kroaten, die es auch gab – unter anderem unmittelbar nach den beiden ersten Treffern der Spanier, ferner in der zweiten Halbzeit durch Josip Stanisic und beim Foulelfmeter, den Boris Petkovic vergab; vor allem aber beim 3:0 von Dani Carvajal (45.+2), der im Rücken der kroatischen Abwehr eine Flanke erlief und ins Tor bugsierte. Das Spiel war danach derart vorbei, dass Zlatko Dalic seine beiden – blassen – Mittelfeldroutiniers Modric, 38, und Mateo Kovacic, 30, nach gut einer Stunde vom Platz holte. „Wir wollten sie einfach schonen“, sagte Dalic, als er den Blick schon auf die ausbleibenden Partien gegen Albanien (Mittwoch in Hamburg) und Italien gerichtet hatte (24. Juni in Leipzig). Sein Kollege de la Fuente wiederum wies voreilige Beförderungen vom Geheimfavoriten zum Titelkandidaten zurück. „Dies war ein Schuss Moral“, konzedierte er, ansonsten mahnte er zur Zurückhaltung: „Gelassenheit ist Macht.“
Die Spanier erfreuten sich nicht nur am Sieg, sondern auch am Auftritt von Lamine Yamal (FC Barcelona), dem Vorlagengeber zu Carvajals 3:0. Er riss im Alter von 16 Jahren, elf Monaten und zwei Tagen den Rekord des jüngsten EM-Spielers an sich. Der war seit 2021 in den Händen des diesmal abwesenden Polen Kacper Kozlowski (17 Jahre, 246 Tage).
Yamal begnügte sich am Samstag nicht nur mit der Bestmarke. Er brach immer wieder auf dem rechten Flügel zu Eins-gegen-eins-Abenteuern auf; auch dies ein Stilmittel, das dem spanischen Spiel neue Tiefe geben soll. Yamal ist nicht nur mit der EM beschäftigt, sondern auch mit den Prüfungen zum Abitur. Seine unmittelbaren Ziele aber sind andere: jüngster EM-Torschütze und vor allem jüngster Finalteilnehmer der Geschichte zu werden. Die bisherigen Rekordhalter – der Schweizer Johan Vonlanthen beziehungsweise der Portugiese Renato Sanches – waren bereits 18, als sie sich ins Guinness-Buch eintrugen.