Süddeutsche Zeitung

Schweiz bei der EM 2021:Die Faust als Gruß

Die Schweiz und ihre Nationalmannschaft - das ist eine komplizierte Geschichte. Das Team steht stets unter besonders kritischer Beobachtung. Doch der Viertelfinaleinzug gegen Frankreich könnte die Blickweise auf die "Nati" verändern.

Von Isabel Pfaff, Bern

Als die Schweizer Spieler realisieren, dass sie gewonnen haben, dass sie das große Frankreich bezwungen haben, da tanzen sie, fallen einander in die Arme, küssen sich. Aber es dauert nicht lange, da nimmt sich Kapitän Granit Xhaka eine der Kameras vor. Er streichelt seine sehr hell blondierten Haare - ein großes Thema in den vergangenen Wochen -, er deutet eine Friseurschere an, dann ballt er die Faust. Es ist ein Gruß an die Schweizer Heimat, und es ist kein freundlicher.

Die Schweiz und ihre Fußball-Nationalmannschaft, das ist eine komplizierte Geschichte. Und auch wenn es liebevoll klingt, wenn die Eidgenossen von ihrer "Nati" reden: Besonders herzlich ist das Verhältnis nicht. Eher kritisch, zuweilen sogar gehässig. Doch das Spiel vom Montagabend ist eines, das in die Geschichtsbücher eingehen wird: eine grandiose Mannschaftsleistung, eine stur von Trainer Vladimir Petkovic verfolgte Strategie, die am Ende aufging - und den ersten Einzug der Schweizer Nationalmannschaft in ein Viertelfinale seit 1954 markiert. Kommt nach diesem Coup endlich die große Versöhnung, Xhaka-Faust hin oder her?

Man muss ein paar Wochen, sogar ein paar Jahre zurückgehen, um auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Das Nationalteam sendete zu Beginn der EM viele kleine Zeichen, die in der Schweiz nicht gut ankamen

Da wären zunächst einmal die Autos. Als die Spieler im Mai ins EM-Vorbereitungscamp einrückten, fielen vor allem die Ferraris und Lamborghinis auf, mit denen sie vorfuhren - Anlass für Kritik in einem Land, wo man Protzerei trotz der hohen Reichen-Dichte nicht gerne sieht. Dann wurde bekannt, dass sich der FC-Arsenal-Profi Xhaka, jüngst zum zweiten Mal Vater geworden, kurz vor dem Abflug zum ersten EM-Spiel noch ein Tattoo mit dem Namen seiner Tochter hatte stechen lassen - trotz der Isolations-Vorgabe seines Trainers.

Und schließlich die Sache mit den Frisuren: Nach Rom ließ sich die Mannschaft extra einen Schweizer Friseur einfliegen. Das kam heraus, weil Xhaka und Manuel Akanji plötzlich vor dem zweiten Gruppenspiel blond waren - um anschließend auf dem Platz eine miserable Leistung gegen Italien abzuliefern. In Kombination mit dem immer wieder geäußerten und irgendwie ja doch erstaunlichen Selbstbewusstsein des Schweizer Kapitäns, was diese EM angeht: viele kleine Zeichen, die nicht gut ankamen zu Hause.

Die NZZ schrieb von der "arroganten Abgehobenheit der Jung-Millionarios", der Blick bezeichnete die Vorfälle als "peinlich" und urteilte: "Diese Abgehobenheit, sie passt einfach nicht zur Schweiz."

Da klingt es an, das eigentliche Problem vieler Eidgenossen mit ihrer Nati: Wie viel Schweiz steckt letztlich in Granit Xhaka, Xherdan Shaqiri, Breel Embolo oder Haris Seferović? Und wie schweizerisch ist eigentlich der in Sarajevo geborene Trainer? Offen herausgebrochen sind diese Fragen schon während der WM 2018. Da bejubelten Xhaka und Shaqiri, beide Kinder kosovarischer Eltern, ihre Tore gegen Serbien mit dem doppelköpfigen Adler, dem albanischen Flaggen-Symbol.

Die Aufregung war damals groß über die vom Schweizer Kommentator als "dumm und dämlich" betitelte Geste. Die Spieler erhalten von der Fifa Geldstrafen, entschuldigen sich sogar ein paar Monate später öffentlich. Doch eine giftige Debatte in der Schweiz ist lanciert: Offen wird gefragt, ob Secondos, wie man im Land die Kinder von Einwanderern nennt, mit dem angemessenen Herzblut für die Schweiz spielen? Eine Politikerin tönt, die beiden müssten sich "entscheiden, ob sie Schweizer oder Albaner sind". Aus dem Schweizerischen Fußballverband kommt gar die Frage, ob man Doppelnationalitäten nicht ganz abschaffen sollte. Und als Xherdan Shaqiri sich bei seiner Entschuldigung etwas ungeschickt ausdrückt und von denen spricht, die "vielleicht in den Bergen das Spiel geschaut" hätten, kocht die Wut erst recht hoch: Ein Kosovo-Albaner, der die Schweizer als Bergler verhöhnt?

Die Frage nach der Identität lässt die Mannschaft nach dem Viertelfinaleinzug nicht los

Seither steht die Mannschaft von Cheftrainer Petkovic unter besonderer, zuweilen gnadenloser Beobachtung - obwohl sie in sportlicher Hinsicht als "goldene Generation" gilt, obwohl die Spieler fast alle ihre Interviews in fließendem Schweizerdeutsch bestreiten. Selbst der Akzent von Petkovic klingt streckenweise mehr nach Tessiner Italienisch als nach Serbokroatisch.

Trotzdem: Immer wieder ist Thema, welche Spieler die Hymne mitsingen und welche nicht. Als Xherdan Shaqiri sich beim ersten EM-Spiel gegen Wales als einziger die Hand aufs Herz legt, während der Schweizerpsalm erklingt, werten Schweizer Sport-Journalisten das als "starkes Zeichen". Und am Dienstag, dem Morgen nach dem historischen Sieg gegen Frankreich, sieht ein Radiomoderator in dem Hand-aufs-Herz-legen der gesamten Mannschaft gar den verborgenen Grund für das geglückte Spiel. Die komplizierte Frage nach der Identität: Sie lässt diese Mannschaft auch nach ihrer großartigen Leistung nicht los.

Dabei ist die aktuelle Nati ein ziemlich guter Spiegel der Schweizer Gesellschaft. Fast 40 Prozent der Menschen ab 15 Jahren, die in der Schweiz leben, haben einen Migrationshintergrund; mehr als ein Drittel dieser Gruppe hat den Schweizer Pass. Vielleicht bringt dieser historische Achtelfinal-Sieg nun die Wende und verändert den Blick dieses Landes auf seine unberechenbare, großmäulige, aber im Hinblick auf ihre Zusammensetzung doch ziemlich normale Nationalmannschaft. Zumindest den liebevollen Spitznamen gibt es schon.

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SZ/and/bek
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