Fußball-EM:Russland wankt Richtung Abreise

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Mit Russland vor dem Aus: Artem Dzyuba, Aleksandr Golovin und Fedor Smolov (v. l. nach r.) (Foto: dpa)
  • Russlands Nationalmannschaft droht bei der EM in Frankreich auch sportlich das vorzeitige Aus.
  • Nach tagelangen Debatten über Krawalle feuerten die Fans ihr Team zwar friedlich an, die 1:2-Niederlage gegen die Slowakei verhinderten sie aber auch nicht. Weiss und Hamsik trafen zum Sieg, Gluschakow konnte nur verkürzen.
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Von Thomas Hummel, Lille

Wassili Beresuzki war natürlich wieder vorne dabei, ganz zum Schluss. Gegen die Engländer hatte er sich in der Nachspielzeit wie ein ausfahrbarer Kran in die Luft gestellt und den Ball zum Ausgleich ins Netz befördert. Auch gegen die Slowaken musste nun jemand den Helden spielen, und die Fußballnation retten. Doch diesmal half der Kran Beresuzki nicht. 1:2 verlor die russische Mannschaft das zweite Spiel in ihrer Gruppe B. Dabei vermag niemand zu sagen, ob ihre lange Zeit äußerst biedere Vorstellung den generellen Fähigkeiten entspricht, oder ob sie nicht doch ein wenig eingeschüchtert war von den Debatten um einen möglichen Turnierausschluss. "Das hat überhaupt keine Auswirkungen auf uns", sagte Trainer Leonid Sluzki nach dem Spiel trotzig. Jedenfalls droht auch ohne Disziplinarmaßnahmen der frühe Heimflug nach Moskau.

Die Veranstalter hatten am Mittwochnachmittag das Dach des Stade Pierre Mauroy geschlossen, womit die Sicherheitskräfte ausnahmsweise einmal nichts zu tun hatten. Es drohte in Nordfrankreich lediglich Ungemach in Form von Starkregen. So fand in Villeneuve-d'Ascq vor der Stadt Lille das erste Hallenfußballspiel dieser EM statt. Darin blieb auf den Rängen alles friedlich, was nach den Ereignissen in Marseille beim ersten russischen Auftritt gegen England ja schon eine Nachricht an sich ist. Gewaltbereite Russen waren in Lille nicht zu sehen, oder sie hatten sich an den Appell von Trainer Sluzki gehalten: Unsere Fans werden sich jetzt benehmen und niemandem mehr einen Grund geben, uns zu disqualifizieren."

Die Europäische Fußball-Union hatte dem russischen Verband mit Ausschluss vom Turnier gedroht, sollte es noch einmal Randale von Landsleuten in einem EM-Stadion geben. Dabei fühlte sich die Elf nach dem späten Ausgleich gegen England bereit für einen längeren Verbleib in Frankreich.

Neustädter mit der Dynamik einer Feder

Zur Überraschung der russischen Beobachter setzte Sluzki wieder auf den Schalker Roman Neustädter. Der im ukrainischen Dnjepropetrowsk noch zu Zeiten der UdSSR geborene Mittelfeldspieler hatte im Mai die russische Staatsbürgerschaft angenommen, weil Sluzki ihm die Nominierung versprochen hatte. Neustädter begann wieder im defensiven Mittelfeld, wirkte dort emsig und akribisch, aber bisweilen mit der Dynamik einer schwebenden Feder. Zumindest im Vergleich zu den Innenverteidigern, mit denen er den Spielaufbau der Russen koordinieren sollte.

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Sergej Ignaschewitsch wird in einem Monat 37 Jahre alt, Wassili Beresuzki wirkt auch nicht viel jünger, wird nächste Woche aber erst 34. Beide sind groß und breitschultrig, der Haaransatz liegt schon etwas höher über der Stirn, die Gesichtszüge sind vom jahrelangen Dienst beim Moskauer Armeeklub ZSKA kantig. Die beiden Abwehrkräne versehen mangels Nachwuchs immer noch ihren Dienst und suchten meistens ihre Krankollegen vorne im Sturm. Artem Dsjuba ist zwar erst 27, aber mindestens genauso breitschultrig und kantig.

Wie gegen England wählten die Russen lange Zeit den hohen Ball auf Dsjuba als Stilmittel, bei ihm sollten die Gegenspieler abprallen und Bälle verteilt werden. Dsjuba bewegte sich dabei erstaunlich wendig und technisch versiert. Als er nach 28 Minuten Fedor Smolov bediente, folgte die größte Chance der Russen zur Führung, doch der Spieler von Kuban Krasnodar schoss Zentimeter am linken Pfosten vorbei.

Bis dahin wirkten die Russen durchaus standfester, die Slowaken suchten noch nach einem Mittel gegen die russischen Kräne in der Abwehr. Doch mit einem Mal fanden sie eins. Ignaschewitsch und Beresuzki vergaßen, ihrem Rechtsverteidiger Igor Smolnikow das Ende der Abseitsfalle mitzuteilen, woraufhin Marek Hamsik den völlig freien Vladimir Weiss entdeckte. Der inzwischen in Katar auf drittklassigem Niveau gutes Geld verdienende Weiss zeigte, warum er dereinst als größtes Offensivtalent der Slowakei gehandelt wurde. Er umkurvte Smolnikow und Beresuzki und schoss ins lange Eck, 1:0 (32.).

Die Slowaken wussten nun, dass sie mit zwei, drei schnellen Pässen die russische Kranabwehr mächtig ins Wanken bringen konnten. Vor allem Marek Hamsik vom SSC Neapel nutzte das nun. Kurz vor der Halbzeit ließ er sich einen Eckball schnell zuspielen, ein Haken, ein Schuss an den Innenpfosten, es stand 2:0. "Wir haben die Konzentration verloren, das war ein großer Fehler", sagte Sluzki später.

In der Pause war dann für Neustädter Schluss, ihm fehlte die Bindung in diesem seltsam eindimensionalen Spiel seiner Mannschaft. Sluzki ordnete wohl endlich ein wenig mehr Spielkultur an, seine Mannschaft setzte nun auf das technisch veranlagte Mittelfeld statt den ewig weiten Pässen auf Dsjuba. Es begann die Zeit des Anrennens gegen die ihren Vorsprung verteidigenden Slowaken. Belohnt erst spät durch das 1:2 von Denis Gluschakow nach 80 Minuten. Ein bengalisches Feuer wurde im russischen Sektor gezündet, der Nebel waberte unter dem geschlossenen Dach. Russland drängte weiter, doch der Ausgleich fiel nicht mehr.

© SZ vom 16.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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