Süddeutsche Zeitung

Achtelfinale der EM 2021:Portugals Aus nagt an Ronaldo

Lesezeit: 3 min

Nach dem bitteren Scheitern gegen Belgien ist der Titelverteidiger tief enttäuscht - vor allem der diesmal wirkungslose Cristiano Ronaldo. Doch dem Stürmer bleiben Rekorde der Einzigartigkeit.

Von Javier Cáceres, Sevilla

Cristiano Ronaldo wandelte nur kurz über den Rasen des Estadio de La Cartuja von Sevilla, dann schleuderte er die Kapitänsbinde, die er sich schon vorher vom Arm gerissen hatte, wutentbrannt zu Boden und ging in die Hocke. Er senkte das Haupt und starrte nach unten. Neunzig plus fünf Minuten lagen hinter ihm, und klar war auch ohne diese Bilder der Niedergeschlagenheit, dass er diesen Epilog bei der Europameisterschaft nicht einmal ansatzweise erwartet hatte.

Telegrafisch zusammengefasst: 0:1 gegen Belgien. Aus im Achtelfinale. Nach nur einem Sieg im ganzen Turnier. Gegen Ungarn. Und es gehörte wenig Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie sehr an dem fünfmaligen Weltfußballer nagte, dass für ihn in Andalusien nun schon Schicht war.

Der einzige Rekord, der ihn interessiere, sei den Europameistertitel von 2016 zu verteidigen, hatte Ronaldo vor Beginn des Turniers gesagt. Man kann im Lichte seiner bisherigen Vita durchaus Zweifel hegen, ob diese Aussage seiner Motivationslage in vollem Umfang entsprach. Ob, anders gesagt, unterm Brustkorb nicht vielleicht doch noch ein kleines Eckchen für ein bisschen Egotismus ausgespart war - die Neigung, sich selbst in den Vordergrund zu drängen.

So wie in Sevilla, als Ronaldo sich nach dem Moment der meditativen Einkehr wieder aufrichtete und, unterwegs die aufmunternden Gesten der Belgier Thibaut Courtois, Romelu Lukaku und Kevin De Bruyne entgegennehmend, Richtung Kabine stolzierte. Nur begleitet von einer Kamera.

Seine Kameraden blieben zurück, als würden sie tatsächlich glauben, Leid ließe sich halbieren wie eine Melone, und gingen dann in Richtung Kurve, um die Trauer gründlich zu pulverisieren. Sie applaudierten den Fans. Ronaldo? War womöglich unter den Spielern, die dann in der Kabine weinten, wie Trainer Fernando Santos später verriet.

Ronaldo hat 70 Prozent aller portugiesischen EM-Treffer erzielt - gegen Belgien gelang ihm keiner

Ob er sich selbst Vorwürfe machte? Gute Frage, Äußerungen gab es von ihm nicht. Einen exzellenten Freistoß schoss er, doch Belgiens Keeper Courtois parierte nicht minder brillant. Erstmals blieb Ronaldo damit in einem Spiel bei dieser EM ohne Tor, und dass der Urheber von rund 70 Prozent aller portugiesischen EM-Treffer ausgerechnet am Tag des Ausscheidens trocken blieb, legte die Conclusio nahe: Kein Ronaldo, keine Party! Dieser Fakt sei nicht von der Hand zu weisen, konzedierte Trainer Santos, der die Portugiesen 2016 zu ihrem ersten Titel geführt hatte.

Dann aber trat er zu einem Monolog an, der sich fast wie eine vorbeugende Verteidigungsrede für CR7 anhörte: "Er hat enorm viel gearbeitet, hat es auf alle erdenklichen Arten probiert, war in jeder Aktion ein Kapitän im Wortsinn, in Sachen Hingabe, Bemühen, dem Willen, das Spiel zu drehen."

Derweil schwollen in Portugal die Debatten an, ob Ronaldo recht daran tat, die Binde nicht nur wegzuwerfen, sondern dem symbolträchtigen Stück Stoff einen Tritt zu verpassen. Gleichwohl: Im Team ist der Kapitän offenkundig anerkannt. Vor der Partie gingen die belgischen Spieler beim ersten Pfiff von Schiedsrichter Felix Brych synchron aufs Knie; als Zeichen der Solidarität mit Rassismus-Opfern. Die portugiesische Elf zögerte - bis Ronaldo das Knie beugte. Erst dann folgten alle.

"Wir hätten es verdient gehabt, zu gewinnen", sagt Portugals Trainer Santos

Was für ihn bleibt, ist einzigartig. Als Einziger hat er fünf Europameisterschaften gespielt. Er hat 14 EM-Tore beisammen, fünf mehr als der Franzose Michel Platini. Und er hat zuletzt den Rekord von Ali Daei, 109 Länderspieltore, egalisiert - oder nur beinahe? Ganz so genau weiß man das nicht. Die einen behaupten, Daei sei ein Tor aus einem Spiel zugesprochen worden, das später annulliert wurde. Daei selbst sagte, er habe eigentlich 111 Treffer erzielt. Einerseits.

Andererseits: Wer wollte Daei und Ronaldo vergleichen? Und ist es nicht letztlich egal, wenn man bedenkt, dass Ronaldo den Rekord wohl so oder so an sich reißen wird - vorausgesetzt er bleibt bei Gesundheit? Die WM 2022 wird er wohl in jedem Fall mitnehmen, um das Aus vergessen zu machen, und man sollte wohl auch nicht ausschließen, dass er bei der EM 2024 in Deutschland aufschlägt, auch wenn er jetzt schon 36 Jahre alt ist.

"Wir hätten es verdient gehabt, zu gewinnen", sagte Trainer Santos, und beteuerte, dass es "keine Mannschaft gibt, die von sich sagen kann, besser zu sein als Portugal". In der Heimat gab es kaum eine Zeitung, die auch eingedenk des späten Pfostentreffers von Raphaël Guerreiro in einem Wortspiel nicht beteuerte, dass alles nur Pech gewesen sei: "Foi Hazard", titelten sie, in Anlehnung als das nahezu gleich klingende Wort für unglückliche Zufälle, "azar". Jedoch: In den vergangenen drei Turnieren konnte Portugal in nur drei Partien gewinnen, wenn die Partie 90 Minuten dauerte: gegen Wales (2016), gegen Marokko (2018) und gegen Ungarn.

Nun bleibe nur der Blick nach vorn: "2018 sind wir auch ausgeschieden, das war eine Riesenenttäuschung. Aber 2019 haben wir dann die Nations League gewonnen. Jetzt müssen wir nach vorn schauen und die WM gewinnen", sagte Santos. Beim Sportblatt A Bola bevorzugten sie auf der Titelseite den Blick zurück, auf den Finalort von 2016. Es zitierte Humphrey Bogarts berühmten Satz aus "Casablanca": "Uns bleibt immer Paris."

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