Ruhig liegt sie da, die Autostadt. Nur ein paar Kinder und Autoabholer bevölkern das Areal, auf dem der Volkswagen-Konzern eine Mischung aus Showroom und Auto-Freizeitpark erbaut hat. Nicht tagsüber, sondern am Abend spielt hier im Moment die Musik. Es ist Sommerfestival, auf der „Lagunenbühne“ haben in den vergangenen Wochen schon Silbermond und Juli gespielt, Katie Melua war auch schon da. Natürlich hat man das auch im Ritz-Carlton mitbekommen. So groß ist Wolfsburg nun auch wieder nicht, als dass sich der Sound bei einem Freiluftkonzert nicht in Richtung des benachbarten Luxushotels ausbreiten würde, wo eine Mannschaft an ihrem eigenen Sommerfestival arbeitet.
Die Niederländer haben sich für diese Europameisterschaft in Wolfsburg niedergelassen, auf der Suche nach der inneren Mitte – und der logistischen, zwischen den Vorrundenspielorten Berlin, Hamburg und Leipzig. Sie stellten dann fest, dass es lauter ist als angenommen. Stürmer Wout Weghorst – Kenner der Stadt nach einigen Jahren im Dienste des örtlichen Werksklubs – erzählte vor zwei Wochen davon, dass er am liebsten bei offenem Fenster schlafe, was bei Deutsch-Rock gar nicht so leicht sei. „Aber das bekommen wir schon hin“, sagte Weghorst. Und tatsächlich: Die Niederländer bekamen es ganz gut hin.
Inzwischen bereiten sie sich im Quartier in Niedersachsen schließlich schon auf ihre sechste Reise vor, zum Halbfinale gegen England am Mittwoch geht es erstmals in den Westen. In Dortmund haben die Niederländer auch noch die berühmte Südtribüne als Heimkurve zugeteilt bekommen, heimische Medien jubilierten darüber. Die Gelbe Wand trägt Oranje.
Davon ist in Wolfsburg kaum etwas zu sehen. Das meiste hier ist grün, nur eine Tischtennisplatte leuchtet orange und das ein oder andere Hinweisschild. Das allerdings sollte man nicht als Dekoration fehlinterpretieren zu Ehren des Teams der Niederlande, das sich „meist ins Hotel zurückzieht“, wie Micky van de Ven am Montag berichtete. Verständlich ist das einerseits deshalb, weil die Unterkunft mit einem sogenannten Infinity-Pool wirbt, wobei man erwähnen muss, dass die Unendlichkeit in Wolfsburg in monströsen Werksschornsteinen rasch ihr Ende findet. Andererseits: So viel gibt es sonst nicht zu sehen.
Durch den Rest der Stadt hat der zweite ehemalige VfL-Spieler neben Weghorst die Mannschaft selbstverständlich schon geführt, ein süffisantes Lächeln huscht ihm beim Bericht über die Lippen: „Einmal waren wir mit der Mannschaft Sushi essen in der Stadt“, sagte van de Ven, ein paar Restaurants kenne er doch noch. Er sei aber „ganz froh darüber, dass wir viel im Hotel sind. Wenn ich jeden Tag ein Programm machen müsste, dann hätte ich ein Problem.“

Frankreich vor dem EM-Halbfinale:Schlechte Sicht, Zuversicht
Der Stürmer Randal Kolo Muani hat ausprobiert, wie viel man durch Kylian Mbappés Maske sieht: „Man sieht nichts.“ Trotzdem gehen die Franzosen den Plan, im Halbfinale gegen Spanien ihr erstes echtes Turniertor zu erzielen, mit Optimismus an.
Das Programm für ihre EM-Reise beschafften sich die Niederlande dann schon selbst. In den Tagen nach der 2:3-Niederlage im dritten Gruppenspiel gegen Österreich wurde es in Wolfsburg ebenfalls mal lauter, allerdings nicht drüben beim Sommerfestival, sondern in einem der Besprechungsräume im Hotel. Eine sehr ernsthafte Unterredung hatte die Mannschaft dort geführt, Kapitän Virgil van Dijk berichtete darüber schon vor dem Achtelfinale: „Es wurden harte Worte ausgesprochen, das war notwendig. Es sind einige Dinge passiert, das waren andere Gespräche als sonst.“
Kapitän van Dijk stand im Zentrum der Kritik
Schonungslos hatte die Mannschaft unter sich die Versäumnisse der Gruppenphase aufgearbeitet. Trainer Ronald Koeman war laut niederländischen Medien zwar anwesend – allerdings nicht als Wortführer, sondern als Zuhörer einer Besprechung, die die Niederländer offenbar dringend notwendig hatten. Die übermäßige Freundlichkeit im Umgang miteinander wurde der Mannschaft in den vergangenen Jahren zunehmend als Schwäche ausgelegt, zu selten seien ehrliche Worte gewechselt worden, auch auf dem Spielfeld und nicht erst unter Koeman. Schon bei der WM in Katar, als die Niederländer im Viertelfinale an Argentinien scheiterten, habe es an klarer Führung gefehlt.
Im Zentrum dieser Kritik stand nun in der EM-Vorrunde erneut Kapitän van Dijk, der das allerdings nicht als Affront gegen sich auffasste. In der Wolfsburger Zusammenkunft habe er auch die Schuld auf sich genommen, sagte er – was in einer beachtlichen Reaktion mündete: Besser organisiert, spielfreudiger, vor allem aber widerstandsfähiger wirkten die Niederländer beim 3:0 gegen Rumänien im Achtelfinale und beim 2:1 gegen die Türkei, als auch ein Rückstand sie nicht aus dem Konzept brachte. Und später die Führung heldenhaft verteidigt wurde: Er habe ein bisschen gebraucht, um „wieder auf die Erde zurückzukommen“, nach den finalen zehn Minuten voller spektakulärer Klärungsaktionen, sagte van de Ven am Montag.
Ruhig, nicht euphorisch, aber überaus positiv ist die Stimmung daher aktuell im Quartier in der Autostadt, durch die sich die Spieler am liebsten mit dem Fahrrad bewegen. Auch in Wolfsburg bleibt der Niederländer sich in dieser Hinsicht treu. Wenn dann auch noch ein Frachtschiff mit einer überdimensionierten Niederlande-Flagge auf dem Mittellandkanal vorbeifährt, sieht es in Niedersachsen fast aus wie zu Hause.
Richtig laut wird es in Wolfsburg übrigens erst wieder am Samstagabend, wenn ZZ Top zum Sommerfestival kommen. Wout Weghorst und die Niederländer werden dann beruhigt bei offenem Fenster schlafen können: Entweder hat die Mannschaft bis dahin schon die Heimreise angetreten – oder sie bereitet sich in Berlin auf das Finale vor.