Was hätte Luciano Spalletti für ein Jahr verbringen können, ein Jahr für Götter wäre das gewesen. Die Zeit wäre nur so verflogen auf seiner kleinen Farm, gelegen auf einem Hügel bei Montaione, einem seelenruhigen, fast schon unverschämt hübschen Örtchen in der Toskana. Bei Bedarf hätte Spalletti, 65, hinabwandern können, für einen Plausch in einer der wuseligen Gassen. Und sonst: Das Leben einfach das Leben sein lassen, den Fußball den Fußball. Der italienische Coach hätte sich der Leichtigkeit des Seins hingeben können, in der Hand ein Gläschen Vino, Rebsorte Sangiovese. Die auf seinem Domizil produzierten Weine gelten als vollmundig und erfreuen sich auch deshalb großer Beliebtheit, weil Kunden wissen, dass die Trauben in einer Umgebung reifen, in der Alpakas, Affen und Strauße umherlaufen.
Aber Spalletti konnte nun mal nicht anders. Sein geplantes Sabbatical, schön und gut, wäre zwar wohlverdient gewesen nach Vollendung seines wohl größten Trainerwerks: des Meistertitels 2023 mit der SSC Napoli, eine Saison im Höhenrausch. Doch wenige Wochen nach dem Freudentaumel ging ein Anruf von Verbandspräsident Gabriele Gravina ein, die Not war groß im italienischen Fußball. Roberto Mancini, vor drei Jahren noch umjubelter Europameistercoach der Squadra Azzurra, hatte unvermittelt seinen Job hingeworfen und war für ein Fabelsalär nach Saudi-Arabien ausgewandert – der Verdacht liegt jedenfalls nahe bei den angeblich 30 Millionen Petro-Dollars, die Mancini jetzt verdienen soll.
So konnten die Italiener von Glück sagen, dass Luciano Spalletti gerade nirgendwo unter Vertrag stand, einer mit seinem Renommee und Know-how wäre andernfalls unmöglich zu bekommen gewesen. Und der Coach zögerte nicht. Er ließ Hennen und Hof hinter sich und trat quasi über Nacht in den Staatsdienst ein, kein Jahr war da noch hin bis zum Start der Europei di Calcio. Seine Bilanz seither: sechs Siege, drei Remis, eine Niederlage. Nicht schlecht für einen, der zur Improvisation verdammt war.
„Wir werden die sein, die wir auf dem Platz sein wollen“, kündigte Spalletti am Freitag in Dortmund an, dem Spielort für die Auftaktpartie gegen Albanien (Samstag, 21 Uhr). Nichts anderes war von ihm zu erwarten gewesen, Glaube steht bei ihm über allem, immer schon. Und gerne mischt er auch mal Pathos in seine Ansprachen. „Wir sind die Protagonisten der italienischen Träume“, sagte er, und: „Unser Fußball ist unsere Marke, wir wollen ihn allen zeigen“. Er sprach da auch in eigener Sache, sein Offensivstil ist südlich der Alpen als Spallettismo bekannt.
Gerade mal zehn Monate ist Spalletti nun Commissario Tecnico, eine turbulente Zeit war das. Während der ersten Länderspielpause im September musste er eine hitzige Debatte über Torwart Gianluigi Donnarumma moderieren; über Italiens Kapitän war einiges an Kritik ergangen, weil er Panne an Panne gereiht hatte. Bei der zweiten Zusammenkunft war das Land in Aufruhr wegen einer Wettaffäre, ein Kronzeuge fütterte die Öffentlichkeit häppchenweise mit Informationen, die organisierte Kriminalität war involviert. Unter den überführten Glücksspielern waren Mitglieder des Nationalteams, darunter die hoch veranlagten Mittelfeldmänner Sandro Tonali und Nicoló Fagioli. Tonalis Sperre hält an, ein Jammer aus Sicht der Italiener. Fagioli hat es gerade noch zurück in den Kader geschafft.
Spalletti stellt in vielerlei Hinsicht einen Kontrast zu Vorgänger Mancini dar
Angesichts der Umstände bestand Spallettis Aufgabe weniger darin, an seinen geschmeidigen Spielmustern zu feilen. Sein Ansinnen war, dass die Gruppe Stärke zieht aus diesem Elend, aus dem Unverständnis über die ständigen Eruptionen im italienischen Fußball. Ihm gelang dieser Seiltanz fast schon mit Bravour. Und in Länderspielpause Nummer drei war’s dann vollbracht: Italien qualifizierte sich für die EM, alles andere wäre für den Titelverteidiger eine Schmach zu viel gewesen. Denn unter Spallettis geflüchtetem Vorgänger Mancini waren die Schwankungen enorm: 2021 der Triumph von Wembley, wenige Monate später die verpasste WM in Katar – nachdem Italien vor 2018 dasselbe passiert war. Ein heftiger Sturz vom azurblauen Himmel war das, doch damit wollte Mancini nichts zu tun gehabt haben. Sein Selbstbild überstand das alles makellos.
Der Kontrast zu Spalletti könnte da kaum größer sein. Vielleicht liegt das daran, dass er lange zu den Trainern gehörte, gegen die José Mourinhos berühmter „Zero tituli“-Hohn gerichtet war: null Titel. Das hatte lange in der Vita Spallettis auch der Realität entsprochen, zumindest mit Blick auf die ganz großen Trophäen. Einmal hätte er fast mit der AS Roma den Scudetto gewonnen, ein andermal fast mit Inter Mailand – aber halt nur fast. Sein Meisterstück in Neapel hat ihm voriges Jahr nun eine Autorität verliehen, wie das nur die Macht des Faktischen kann: Schön haben seine Mannschaften immer schon gespielt. Aber im Lichte des Erfolgs sieht alles noch mal schöner aus.
Spalletti ist diese Wandlung anzumerken, wenngleich er sich das Guruhafte bewahrt hat. Sein Trainerleben lang war Spalletti einer, der die tiefen Abwehrketten des Calcio aufbricht, rhetorisch und taktisch. Nun hat er auch eine Balance im Auftritt gefunden, die etwas von seinem idealen Fußball hat: raffiniert, vollmundig, immer gerade raus. Spalletti geißelte Nachtschichten an der Playstation als „Unart der Moderne“, Zocken ist im Teamquartier im märkischen Iserlohn in den Abendstunden streng verboten.
Spalletti hat sich Inspiration geholt – bei den gefürchteten „All Blacks“
Bei Amtsantritt hatte der Coach angekündigt, dass er keine „Schwachköpfe“ in seinem Team brauche; die leicht zu unterstellende Vulgarität war in Wahrheit keine. Spalletti hatte aus dem Bestsellerbuch „Legacy“ zitiert, darin geht es um die Ethik der gefürchteten „All Blacks“, des Rugby-Nationalteams von Neuseeland. Seine Lehre daraus: keine Isolation in virtuellen Räumen, klare Regeln, wenig Gelächter. Das heiße nicht, dass Tristesse regieren solle, sagte Spalletti; es gehe vielmehr darum, „mit Spaß zu arbeiten“. Aber: maximaler Fokus! Witzeleien lenkten davon nur ab, glaubt der Coach.
Spalletti, aufgewachsen auf einem Bauernhof, erinnert in seiner Akkuratesse ein wenig an den großen Arrigo Sacchi, Sohn eines Schuhverkäufers. Auch Sacchi ist ein Pelato, einer mit kahl rasiertem Haupt. Und ähnlich wie Sacchi, der als Milan-Trainer einst die wilden Pferde des Angriffsfußballs losschickte und beim verlorenen WM-Finale 1994 konservativer coachte, wird auch Spalletti sich nun im Staatsdienst disziplinieren müssen. Die Italiener, so schreibt es Sacchi in seiner Kolumne für die Gazzetta dello Sport, gehörten in Deutschland nicht zu den großen Favoriten, mindestens vier Nationen hätten mehr Qualität. Ankommen werde es daher auf den Innovationsgeist eines Mannes: Luciano Spalletti, Nothelfer aus der Toskana. Doch Sacchi habe da „größtes Vertrauen“.