Ungarn bei der EM:Knapp vorbei am großen Coup

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Tor gegen den Weltmeister: Attila Fiola trifft für Ungarn zum 1:0. (Foto: Anthony Bibard/imago)

Außenseiter Ungarn bringt Frankreich an den Rand einer Niederlage - am Ende rettet sich der Weltmeister ein 1:1. Das letzte Gruppenspiel der Ungarn gegen Deutschland hat nun Brisanz.

Von Frank Hellmann, Budapest

Im EM-Spielort Budapest gelten bei diesem Turnier die Corona-Regeln nur bedingt, nun schickt sich auch noch die ungarische Nationalmannschaft an, die Gesetzmäßigkeiten des Fußballs außer Kraft zu setzen. Nach einem überraschenden, aber nicht unverdienten 1:1 (1:0)-Remis gegen Frankreich hat der Außenseiter der Gruppe F vor dem letzten Gruppenspiel in Deutschland dann noch Chancen aufs Achtelfinale, wenn Ungarn das dritte Spiel am Mittwoch in München gewinnt.

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Nach einem Treffer von Attila Fiola (45.+2 Minute) schnupperte das Team von Trainer Marco Rossi am Samstag im Tollhaus namens Puskas-Arena - dessen Belegung mit mehr als 55 000 Fans fragwürdige Maßstäbe für dieses paneuropäische Experiment setzte - zunächst an der Sensation, ehe Antoine Griezmann für den insgesamt zu fahrigen Weltmeister ausglich (66.). "Wir müssen uns aufraffen und ausruhen, um Portugal zu schlagen", sagte Griezmann. "Ich weiß nicht, was gefehlt hat... Ich bin geschafft. Es war richtig heiß. Es war das erste Mal für uns in einem vollen Stadion. Wir sind ein volles Stadion nicht mehr gewohnt. Wir haben uns nicht gehört."

Was das Ergebnis für die Ungarn bedeutet, war bei ihrem besten Spieler, Keeper Peter Gulasci, nach dem Schlusspfiff zu beobachten: Erst sprang der 31-Jährige mit erhobenen Fäusten durch seinen Torraum, dann sackte der ansonsten so beherrschte Ballfänger von RB Leipzig in die Knie. Und als Torwart und Kollegen vor der Fankurve die Welle machten, wollten die Ovationen gar nicht enden. Das Absingen der Nationalhymne vor einer ausgiebigen Ehrenrunde durfte in diesem Overkill der Emotionen hinterher nicht fehlen.

Wenn es torgefährlich wird, hat immer wieder Kylian Mbappé Fuß oder Kopf im Spiel

Abermals versammelten sich bereits am Samstagvormittag annähernd 20 000 Fußball-Anhänger, um vom Millenniumsdenkmal am Ende der Andrássy-Straße sich gemeinsam genau drei Stunden vor Anpfiff auf dem Weg durchs Stadtwäldchen zum Stadiongelände zu machen. Mit Bier und Böller, Gegröle und Gesängen - aber ohne Abstand und ohne Maske. Gekommen waren auch rund 3000 Anhänger der Equipe Tricolore, die anfangs den erwarteten Spielverlauf beobachten sollten: Die gegenüber dem Deutschland-Spiel fast unveränderten Franzosen, technisch klar besser, versuchten recht gelassen, Ball und Gegner laufen zu lassen. Wenn es torgefährlich wurde, hatte immer wieder Kylian Mbappé Fuß oder Kopf im Spiel.

Der einfach nicht greifbare Ausnahmeangreifer legte zuerst Sturmpartner Karim Benzema auf, der mit seinem Flachschuss an Gulacsi scheiterte (14.). Dann war es Mbappé selbst, der nach Maßflanke des für den verletzten Lucas Hernandez in die Startelf gerückten Lucas Digne knapp vorbei köpfelte (17.). Spektakulär hernach die Vorarbeit, die der 22-jährige Derwisch erneut für Benzema leiste, aber der elf Jahre ältere Mittelstürmer schob die Kugel am Pfosten vorbei (31.). Als dann auch noch ein Solo Mbappé ungekrönt blieb (33.), deutete sich bereits an, dass der weltmeisterliche Chancenwucher sich rächen könnte.

Herausragende Vorarbeit, sicherer Abschluss: Nach einer Vorlage von Ausnahmestürmer Kylian Mbappè trifft Antoine Griezmann in der 66. Minute zum 1:1. (Foto: Anthony Bibard/PanoramiC/imago)

Und so kam, was kommen musste: Der bis dahin fast ausschließlich mit opferungsvollem Verteidigen beschäftigte Hausherr startete einen Konter, der aufgerückte Attita Fiola entwischte Raphael Varane und fertig war das 1:0 (45.). Der 31 Jahre alte Außenverteidiger konnte sein Glück kaum fassen, ballte die Faust, lief in die Stadionecke, um seine Freude mit den Besuchern zu teilen: Fiola hatte Frankreich den ersten Gegentreffer nach fünf Länderspielen zugefügt.

Minutenlang lagen sich Menschen in roten Trikots juchzend in den Armen, der frenetische Jubel wollte gar nicht enden. Beißender Gestank zog in der Pause durchs die drei Tribünenränge - so viel Pyrotechnik hatten ungarische Ultras im Überschwang gezündet. "Wir hatten nichts zu verlieren, wir waren bereit, alles zu geben. Ich bin zufrieden mit dem einen Punkt. Das gibt uns große Kraft für das letzte Gruppenspiel", sagte der ehemalige Werder-Profi Laszlo Kleinheisler schon mit Blick auf die Partie gegen das DFB-Team.

Ungarns Torwart Gulacsi erlebt einen guten Tag

Wer gedacht hätte, dass ein Turnierfavorit mit einem Feuerwerk auf dem Rasen vielleicht nach Wiederanpfiff gleich dagegenhalten würde, sah sich getäuscht. Wo war der Esprit hin, den diese hochkarätige Besetzung doch eigentlich hätte verströmen müssen? Die besondere Atmosphäre und die drückende Schwüle können es bei dieser Ansammlung an Stars ja nicht gewesen sein, die zu einer teils etwas trägen, ja auch drögen Vorstellung führten.

Nationaltrainer Didier Deschamps hatte zur zweiten Halbzeit Ousmane Dembele gebracht, der prompt mit einem Schuss an den Pfosten für einen Wachrüttler sorgte (59.). Bald darauf war es - wer sonst - Mbappé, dessen Behauptungswille, Geschmeidigkeit und Vorlage nach einem Abschlag seines Torwarts Hugo Lloris seinem bis dahin eher dezent wirkungsvollen Offensivkollegen Griezmann den Ausgleich ermöglichte. Unfreiwillig half auch Abwehrchef Willi Orban mit, der nur unzureichend klären konnte.

Einen besseren Tag als der Verteidiger von RB Leipzig hatte eben sein Klubkollege Gulacsi erwischt. Der Schlussmann mit der Seelenruhe krönte eine abermals tadellose Leistung mit einem glänzenden Reflex gegen den frei zum Schuss gekommenen Mbappé (82.). Der Rest war ungarische Feierstunde.

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