Die schöne Maske in den französischen Nationalfarben Blau, Weiß und Rot, versehen mit einem Hahn sowie den Initialen K und M – die würde Kylian Mbappé auf keinen Fall tragen im zweiten Gruppenspiel der Franzosen gegen die Niederlande. So viel war vorher schon klar gewesen. Die Uefa hat diese Europameisterschaft in Deutschland zwar überall quietschbunt angemalt, aber „medizinische Ausrüstung, die auf dem Spielfeld getragen wird, muss einfarbig sein“. Heilige Uefa-Regel Nummer 42.
Aus allem anderen rund um die Problempersonalie Mbappé hatten die Franzosen eine Art Staatsgeheimnis gemacht, nachdem sich ihr Kapitän und Superstar in der ersten Partie gegen Österreich (1:0) die Nase gebrochen hatte. Spielt er oder spielt er nicht? Der Verband FFF hatte lediglich mitgeteilt, eine Spezialmaske werde es ermöglichen, „nach einer gewissen Zeit der Behandlung eine Rückkehr ins Spiel zu erwägen“. Und Antoine Griezmann, Mbappés Sturmpartner und Ersatzkapitän, wusste am Donnerstag zu berichten, dass es „Kylian sehr gut geht. Die Nase ist etwas abgeschwollen. Wir schauen bis zum letztmöglichen Moment“.
Der letztmögliche Moment kam dann am Freitagabend in Leipzig. Mbappés bunte Trainingsmaske blieb in seiner Sporttasche, die schwarze Spielmaske auch. Mbappé nahm auf der Ersatzbank Platz. Und damit, man muss das wohl so sagen, begann diese Europameisterschaft für die Franzosen noch einmal von vorn.
Nach dem torlosen Remis ohne ihren Topstürmer macht sich beim Titelfavoriten eine Erkenntnis breit
Tore? Gab es 90 Minuten lang keine. Am Ende stand ein 0:0, mit dem beide Teams die Tür zum Achtelfinale zwar ziemlich weit aufgestoßen haben. Nach diesem Remis dürfte sich aber beim nicht nur selbsterklärten, sondern auch logischen Turnierfavoriten Frankreich die Erkenntnis breitmachen, dass es schon gut wäre, wenn ihr Maskenmann wieder zurückkehren könnte am kommenden Dienstag in Dortmund gegen die Polen, deren EM-Aus mit dem Unentschieden zwischen den Franzosen und Oranje bereits besiegelt ist. Bisher ist Frankreichs einzige Torschütze des Turniers nämlich ein Österreicher: Maximilian Wöber, der im ersten Spiel ins eigene Tor getroffen hatte.
Zwar hatte der niederländische Nationaltrainer Ronald Koeman recht mit seiner Einschätzung, es ändere „nicht alles“, ob man nun gegen Frankreich mit oder gegen Frankreich ohne Mbappé spiele. Alles nicht. Aber für Didier Deschamps ist es natürlich ein riesengroßer Unterschied, ob er seine Elf in allem, was sie offensiv tut, auf den besten Fußballer der Welt und schnellsten Stürmer des Universums ausrichten kann. Oder ob es eine neue Achse und neue Abläufe braucht.
Tchouaméni für Mbappé: Wer bitte soll hier ein Tor erzielen?
Und so entschied sich der Sélectionneur der Bleus dann auch für eine stark veränderte Statik: Statt Mbappé im bewährten 4-3-3-System rechts von Ousmane Dembélé und links von Marcus Thuram flankieren zu lassen, stellte Deschamps auf ein reichlich asymmetrisches 4-4-2 um, mit Thuram und Griezmann als rotierenden Zielspielern sowie Dembélé (eher offensiv) auf der rechten und Adrien Rabiot (eher defensiv) auf der linken Außenbahn. Rabiots Platz in der Zentrale wiederum übernahm Aurélien Tchouaméni von Real Madrid, der gerade erst aus einer Verletzungspause wegen eines Ermüdungsbruchs zurückgekehrt war.
Tchouaméni für Mbappé hieß es also auf dem Papier – auf dem Platz hieß es: Wird hier irgendwer mal ein Tor erzielen?
Dass die Niederländer fast schon in der ersten Minute in Führung gegangen wären, lag aber nicht am französischen System. Sondern daran, dass sich die Franzosen überrumpeln ließen. Der Leipziger Xavi Simons steckte den Ball rechts draußen auf den Leverkusener Jeremie Frimpong durch, der hatte freie Bahn wie auf den Champs-Élysées nachts um vier – aber seinen Schuss Richtung langes Eck lenkte Torwart Mike Maignan noch um den Pfosten. Es sollte die beste Chance der Niederländer in den ersten 45 Minuten bleiben.
Den Franzosen fehlt die Gewissheit, das Spiel jederzeit auf die eigene Seite ziehen zu können
Die Franzosen kamen öfter zum Abschluss, machten es aber auch nicht besser. Mal verstolperte Griezmann, von Rabiot bedient, zwei Meter vor der Torlinie (14. Minute). Mal setzte er einen Weitschuss neben das Tor oder an die Fäuste des niederländischen Keepers Bart Verbruggen. Und je länger diese Partie dauerte, desto deutlicher wurde aus Sicht der Franzosen: Er fehlt!
Es fehlten nicht nur Mbappés Hochgeschwindigkeitssprints und seine genialen Momente – es fehlte auch die Gewissheit, mit einem einzigen Hochgeschwindigkeitssprint oder genialen Moment das Spiel jederzeit auf seine Seite ziehen zu können. Es mangelte nicht an Souveränität und Kontrolle – die Kontrolle haben die Franzosen unter dem Kontrollfreak Didier Deschamps ja meistens, und weil Koeman seiner Elf eine Pressing- und Kontertaktik verordnet hatte, agierten die Franzosen häufiger als gewohnt sogar aus eigenem Ballbesitz. Von den vergangenen acht Spielen gegen die Niederländer hatten sie sieben gewonnen, zwei davon in der EM-Qualifikation. Aber: Vier ihrer sechs Tore in diesen beiden Partien hatte Mbappé erzielt.
Und so machten sie auch in der zweiten Halbzeit kontrolliert, mit guten Gelegenheiten, aber ohne die allerletzte geglückte Zuspitzung weiter: Thuram zieht den Ball über das Tor (60.), Griezmann kriegt ihn aus nächster Nähe schon wieder nicht über die Linie (65.). Dafür schießt Xavi Simons ihn auf der anderen Seite ins französische Netz (65.) – und provoziert damit eine minutenlange Sitzung des Videogerichts. Rechtskräftiges Urteil: kein Treffer, weil Denzel Dumfries Torhüter Maignan behinderte und im Abseits stand.
Und dann ließen sie es ausplätschern, dieses als Gipfeltreffen avisierte und tatsächlich niemals langweilige Spiel – zum ersten 0:0 überhaupt bei diesem Turnier. Und man musste sich die Frage stellen, ob in der Offensive des WM-Finalisten von 2022 vielleicht mehr zerbrochen ist als eine Nase.