Fußball-EM:Er lebt

England v Croatia - UEFA Euro 2020: Group D

Auf der Stadionleinwand im Wembley-Stadion erscheinen Grüße an Christian Eriksen.

(Foto: Catherine Ivill/Getty Images)

Das Drama um Christian Eriksen, der nach einem Herzstillstand auf dem Spielfeld wiederbelebt werden muss, überlagert den Auftakt der EM. Dänemarks Spieler entscheiden, sofort weiterzuspielen - und erkennen erst später: "Wir hätten uns in den Bus setzen und heimfahren sollen".

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Irgendwann - gefühlt sind mehrere Stunden vergangen, in Wirklichkeit war es eine einzige - sagt der Kommentator des Dänischen Rundfunks DR leise: "Christian Eriksen lebt." Der Stadionsprecher in Kopenhagen hatte gerade verkündet, Eriksen sei "bei Bewusstsein", sein Zustand "stabil". Das Stadion jubelt. Aber was für ein Satz: Eriksen lebt. Für endlose Momente der Angst hatten ein ganzes Stadion, eine ganze Nation auch das Schlimmste nicht mehr ausgeschlossen.

Später wurde auch wieder ein Ball auf den Rasen gelegt und von 22 Beinen von links nach rechts und von rechts nach links gekickt. Aber ein Fußballspiel war das zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr.

Christian Eriksen ist der beste Spieler in der dänischen Nationalmannschaft. Wie die anderen hier in Kopenhagen hat er auf dieses Turnier gebrannt, wie die anderen hat er auch daran geglaubt, sie könnten es in diesem Jahr vielleicht noch einmal schaffen, so ein Wunder wie bei der Europameisterschaft 1992, wo sie den damaligen Weltmeister Deutschland schlugen im Finale. Wenn, dann mit ihm, mit "König Christian", wie sie den 29-Jährigen hier auch nennen.

Es ist still im Stadion von Kopenhagen

Und dann der Moment, wenige Minuten vor der Halbzeit. Es steht 0:0, Dänemark beherrscht Finnland, aber es ist noch kein Tor gefallen. Einwurf für Dänemark von links, Eriksen möchte annehmen, doch noch bevor er den Ball berührt, kollabiert er. Die ihn umringenden Finnen rufen zur Seitenlinie, gestikulieren heftig. Dänemarks Kapitän Simon Kjaer leistet erste Hilfe. Ärzte kommen angelaufen. Dann bilden die dänischen Spieler einen Kreis um ihren Mannschaftskameraden. Die Zuschauer haben zunächst keine Ahnung, was geschehen ist, aber als viele der Mitspieler auf dem Feld ihr Gesicht in den Händen vergraben und manche zu weinen beginnen, wird es still im Stadion.

Irgendeiner reicht den dänischen Spielern eine finnische Flagge, mit der sie einen Sichtschutz um Eriksen schaffen. Die Zuschauer am Fernsehen in Dänemark sind da schon nicht mehr dabei. Die Kamera hält nicht hin, das Stadion wird von nun an aus der Vogelperspektive gezeigt. Ab und an gibt es knappe Kommentare der Moderatoren. Die Behandlung auf dem Rasen - unter anderem eine Herzdruckmassage - scheint endlos zu dauern. Zehn, 15 Minuten, in der Arena ist in diesen Minuten kaum ein Laut zu hören.

"Er war schon weg", wird Mannschaftsarzt Morten Boesen mit brüchiger Stimme bei einer Pressekonferenz am Sonntag sagen. "Es war ein Herzstillstand. Wir haben ihn zurückgeholt." Noch bevor ein Rettungswagen ihn ins nahe Rigshospitalet fuhr, konnte der Arzt ein paar Worte mit Eriksen wechseln.

"Was wir an dem Abend auch gesehen haben, ist, was den Fußball eigentlich ausmacht"

Das Publikum allerdings weiß da noch nichts von den Lebenszeichen des Spielers. "Wir beten für dich", schreibt das Boulevardblatt Ekstrabladet. Irgendwann beginnen die finnischen Fans zu rufen "CHRISTIAAAN!", und die Dänen antworten im Chor mit "ERIKSEN!" Wieder und wieder. Der DR-Kommentator macht "ein Gefühl der Verbrüderung" aus. Verbrüderung in der Sorge.

Das war bei allem Schrecken berührend zu beobachten: Der Teamgeist auf dem Rasen, der Respekt, den die Fans auf den Rängen an den Tag legten, für die Spieler, füreinander. Viel sei zuletzt über die Gier im Fußball geredet worden, über Geld und Kommerz, sagte der dänische Trainer Kasper Hjulmand am Sonntag. "Aber was wir an dem Abend auch gesehen haben, ist, was den Fußball eigentlich ausmacht: Teamgeist und Mitgefühl und Liebe."

Und doch standen auch die Zuschauer genau wie die Spieler unter Schock. "Es ist unerträglich. Wir sind völlig durcheinander, wir wissen nicht, auf welchem Bein wir stehen sollen. Viele von uns schreien", zitiert die Zeitung Politiken in jenen Minuten eine Zuschauerin.

Endlich die Nachricht. Christian Eriksen lebt. Das Stadion jubelt. Dann die nächste Nachricht: Das Spiel wird fortgesetzt. Der Kommentator bei DR mag das zunächst nicht glauben. "Das wird eine große psychische und physische Herausforderung", sagt er.

Die Spieler beider Teams hatten zugestimmt, die Dänen konnten zuvor über einen Videocall kurz mit Eriksen sprechen. Nationaltrainer Kasper Hjulmand hatte ein paar Worte mit ihm gewechselt, bevor er ins Krankenhaus gebracht wurde. "Wir wurden heute daran erinnert, was das Wichtigste im Leben ist", sagte Hjulmand. "Gesundheit. Und dass man Leute um sich herum hat, die einem nah sind."

Die Uefa, erzählte Hjulmand noch am Samstagabend, habe den Teams zwei Möglichkeiten gegeben: entweder das Spiel am selben Abend noch zu beenden, oder aber eine Fortsetzung am Sonntag um 12 Uhr. "Die Spieler konnten sich nicht vorstellen, schlafen zu können und dann Sonntagmorgen zum Spiel in den Bus zu steigen. Es war besser, es gleich zu machen." Es sei auch Eriksens Wunsch gewesen, die Partie zu beenden. Aber dies habe sich als "unglaublich schwierig" herausgestellt. Der finnische Stürmer Teemu Pukki nannte das Spiel hinterher "das härteste meiner Karriere". Sein Team habe beschlossen, den Dänen in ihrer Entscheidung zu folgen, wie auch immer sie ausfallen würde.

Beide Teams also sagten ja. Bloß: Was ist das für eine Entscheidung, vor die man gestellt wird in einer Stunde des Schocks und des Schmerzes? Experten und Medien kritisierten die Uefa hinterher hart, der Sender TV2 sprach von einem "irren" Ultimatum. "Man gab ihnen eine Wahl, die keine Wahl war", sagte die dänische Fußballlegende Michael Laudrup. Wieder einmal, kommentierte der Sender TV2, hätten "kommerzielle Interessen Vorrang vor Menschlichkeit" gehabt.

Die Uefa soll den Sonntag vorgeschlagen haben

Doch es gibt auch eine andere Darstellung. Am Sonntag heißt es im Uefa-Führungszirkel, die Verbandsspitze habe zunächst die Fortsetzung der Partie am Sonntag vorgeschlagen, nicht: entweder oder. Explizit, um keinen Druck auszuüben. Aber dann seien Uefa-Matchdelegierte und auch Generaldirektor Theodor Theodoridis in persönlichen Gesprächen mit den Spielern überzeugt worden, dass diese lieber direkt weiterspielen wollten. Die finale Entscheidung sei dann telefonisch mit Uefa-Präsident Aleksander Ceferin erfolgt, der beim Spiel in Sankt Petersburg weilte.

Am Sonntagnachmittag dann, in einer bemerkenswerten Pressekonferenz, gestand Nationaltrainer Kasper Hjulmand ein, die Entscheidung zum Weiterspielen zu bereuen: "Ich denke nun, wir hätten nicht spielen sollen", sagte er. "Wenn ich zurückschaue, dann war es die falsche Entscheidung. Die Spieler waren im Schock, sie wussten nicht, ob sie ihren Freund verloren hatten. Vielleicht hätten wir uns einfach in den Bus setzen und heimfahren sollen und dann schauen, was der nächste Tag bringt." Hjulmand sagte, es sei "falsch" gewesen, die Spieler vor diese Entscheidung zu stellen.

Kapitän Kjaer bat um seine Auswechslung

Einige Spieler hatten sich am Samstagabend nicht mehr in der Lage gesehen, weiterzuspielen. Kapitän Kjaer beispielsweise, der in Medien und sozialen Netzwerken hinterher gefeiert wurde für seine Umsicht in den kritischen Minuten nach Eriksens Kollaps, und auch dafür, wie er auf dem Spielfeld dessen Freundin Sabrina getröstet hatte. Kjaer bat um seine Auswechslung.

Noch in der Nacht kamen vier Krisenpsychologen ins Hotel, um die Spieler zu betreuen. "Die Spieler haben unterschiedliche Traumata und Gefühle", sagte Hjulmand. Man versuche nun, "so gut wie es geht, Normalität" herzustellen: "Für einige wird die Zeit vielleicht nicht ausreichen. Andere werden es als Motivation sehen, so eng wie möglich zusammenzustehen."

Der Spielbericht hat keine Bedeutung

Was zählt ein solches Spiel noch? "Die Spieler spielen das Spiel für Christian", sagte Peter Møller vom Dänischen Fußballbund noch vor der Fortsetzung des Matches. "Sie spielen, weil es Christian gut geht." Er sagte das, bevor Finnland völlig überraschend das 1:0 erzielte, (Pohjanpalo; 60. Minute) Dänemark vergab per Elfmeter die Chance auf den Ausgleich. Das Ergebnis ist eine Sensation: Die Finnen haben das letzte Mal 1949 in Kopenhagen gewonnen.

In Wirklichkeit aber hat ein Spielbericht für diesen Abend nicht die geringste Bedeutung. "Wir lieben alle Fußball", sagte DBU-Chef Peter Møller am Sonntag. "Aber Fußball ist nicht die Welt." Ein "schockierender und surrealer Abend" (Politiken) endete mit der Niederlage Dänemarks. Christian Eriksen aber gewann das wichtigste Spiel seines Lebens. Er lebt.

Bei einem Videotelefonat mit der Mannschaft am Sonntag habe Eriksen gelächelt, erzählt der Trainer. "Und er machte sich Sorgen um uns."

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